Verwirrend schön: Cécile McLorin Salvant „Ghost Song“

Cécile McLorin Salvant kann und darf alles singen, weil diese Frau mit ihrem geradezu perfekten Gesang alleine schon fasziniert. Hinzu kommt noch, dass sie bei allem intellektuellen Ansatz dennoch berührt. Die Zartheit im Ausdruck, die sie mit Expertise mal flattern lässt, mal in ihrer ganzen Reinheit einfach ungeschminkt stehen lässt, die grollenden Tiefen, die neckischen Momente, der bisweilen auch schauspielerische Eifer, die Lust am Experimentieren – das alles macht auch wieder ihr neues Album „Ghost Song“ zu einem Ereignis.

Von Dylan C.  Akalin

Den Opener kennt wohl jeder. In ihrer bearbeiteten Version von Kate Bushs „Wuthering Heights“ wird die Sängerin Cécile McLorin Salvant zu einer musikgewordenen Romanfigur. Dem folgt ein Medley aus „Optimistic Voices/No Love Dying“, eine ungewöhnliche Paarung, bei der der Song aus Liedchen aus „Der Zauberer von Oz“  zu einer zappa’esken Version wird, der in die schöne Ballade von Gregory Porter führt. Verwirrend schön.

Die klassisch ausgebildete Jazzsängerin und Komponistin Cécile McLorin Salvant, dreifache Grammy-Gewinnerin und McArthur-Stipendiatin, stellt auf diesem Album sieben Originalsongs und fünf Interpretationen zusammen, die zusammen als Konzept wirklich funktionieren. Das Album zeichnet wieder die Vielfalt an Einflüssen und ihre draufgängerische Risikobereitschaft aus. Dazu gehört auch eine talentierte Crew von Musikern: Paul Sikivie: elektrischer und akustischer Bass, Synthesizer; Sullivan Fortner: Klavier, Fender Rhodes, Gesang; Alexa Tarantino: Flöte; Aaron Diehl: Klavier, Pfeifenorgel; Marvin Sewell: Gitarre; James Chirillo; Banjo; Daniel Swenberg: Laute; Burniss Travis: Bass; Kyle Poole: Schlagzeug; Keita Ogawa: Schlagzeug.

„Ghost Song“ ist ein Album voller solcher Lieder von Geistern und Träumen, die schier unerreichbar schön sind. Salvant gehört zu den intellektuellen Sängerinnen, die „Ghost Song“ als Gesamtkunstwerk präsentiert, in dem sich jeder Song wie ein großartiges Theaterstück entwickelt. Der Titeltrack ist ein perlender Blues über die verlorene Liebe: „I cried the day you unlocked to go/I cried much more than you’ll ever know.“ Der Song mischt Americana- und R&B-Elemente und klingt wie ein bluesiger Arbeitersong. In der Pause tanzt sie mit „dem Geist unserer längst verlorenen Liebe“, und wenn es ihr nicht reicht, diese Texte zu singen, bringt sie das Thema mit einem Kinderchor, der die Worte durch den Schluss singt, zum Abschluss.

Die Schönheit von McLorin Salvant und ihrer musikalischen Welt kommt von ihrer Neugier, ihrer Tiefe und den Künstlern, die sie in diese Welt bringt. Die Musikalität ist durchgehend tadellos, manchmal herausfordernd, manchmal beruhigend, immer der Tiefe jedes Songs treu. Zum Beispiel „Until“, das längste dieser 12 Tracks: Was als ruhiges Duett zwischen der Sängerin und dem Pianisten Sullivan Fortner beginnt, der hier eine Kraft für sich ist, entwickelt sich zu einer tangoartigen Aufnahme mit einem grandiosen Flötensolo von Alexa Tarantino, James Chirillo, der Banjo zupft, und Keita Ogawa, die wunderschön darauf ein tanzendes Schlagzeug spielt.

Dem rüttelnden „I Lost My Mind“ folgt der schöne „Moon Song“. Während die Jazzballade „Moon Song“ voll mildem, fließendem Lauf ist, wird „I Lost My Mind“ von der pandemiegetriebenen Spannung getragen. Es ist ein Versuch, aus der Dunkelheit herauszukommen, mit eindringlichen Staccato-Wiederholungen eines Gesangsriffs in ungeraden Takten, ergänzt durch Aaron Diehls begnadete Pfeifenorgel. Auf „Trail Mix“ gönnt Salvant ihrer Stimme eine Pause, während sie bei diesem Instrumental beeindruckend selbst Klavier spielt. „The World Is Mean“ („Die Welt ist gemein“) aus Kurt Weills Dreigroschenoper ist reines, augenzwinkerndes Theater. „Dead Poplar“ ist die Vertonung eines Briefes des Fotografen Alfred Stieglitz an die Malerin Georgia O’Keefe, das mit der puren Intonation der Stimme das Herz rührt. „Thunderclouds“ erinnert mit den samtenen Gitarren-Piano-Schichten an die sehnsüchtige Intensität einer nachdenklichen Joni Mitchell. Salvant schließt mit „Unquiet Grave“, einer A-cappella-Version des englischen Volkslieds, in dem ein junger Mann zu sehr um seine tote Liebe trauert und sie daran hindert, Frieden zu finden. Vermutlich stammt das Original aus dem Jahr 1400. Der Song wurde schon von vielen Künstlern interpretiert, etwa von Joan Baez, der Folk-Rock-Gruppe Steeleye Span, dem Progressive-Rocker Steven Wilson und vielen mehr. Hier dient es als Schlusspunkt einer theatralischen Reise, wenn das Dunkel noch da ist, das Licht noch diffus flackert – und der Vorhang fällt.