Jane Ira Bloom legt mit „Wild Lines / Improvising Emily Dickinson” eines der stärksten Jazz-Alben des Jahres vor. Das Ungewöhnliche der Kompositionen ist das, wofür Bloom mit ihrem Sopransaxofon schon seit Jahren steht: die Erforschung des weiten Felds von Emotionen – im Jazz bedeutet das, verschiedene Ansätze, Stile, Rhythmen und Harmonien zu einem modernen Ausdruck zu vereinen. Dass ihr das auf diese großartige Art gelingt, ist einerseits auf das feste Kompositionsfundament, auf dem die Stücke stehen, begründet, andererseits auf den Kollaborateuren, die ihr sowohl im Herzen, als auch intellektuell folgen. Phänomenal!
Von Dylan Cem Akalin
Emily Dickinson (1830-1886) ist ein Phänomen der amerikanischen Literaturgeschichte. Eine Frau des 19. Jahrhunderts, die, sehr zurückgezogen lebend, Gedichte von großer Wortschöpfung, von ungewöhnlicher Rhythmik und außerordentlicher Tiefe schrieb. Mehr als 1700 Gedichte lagen, sorgsam in 40 Heften niedergeschrieben darauf, nach ihrem Tod veröffentlicht zu werden. Die akademische Welt ist sich einig: Ihre Poesie war ihrer Zeit weit voraus.
Und so sieht es auch Jane Ira Bloom. Insbesondere als sie erfuhr, dass die Dichterin selbst Pianistin war und improvisierte. Das habe sie darin bestätigt, dass Bloom immer eine jazzähnliche Qualität in Dickinsons Phrasierung empfand. „Ich habe es nicht immer verstanden, aber ich fühlte immer, dass Emilys Umgang mit Worten das widerspiegelt, wie ein Jazzmusiker mit Noten umgeht.“ Sie habe sich von der Poesie Dickinsons inspirieren lassen und so auch einen neuen Zugang zu ihren Gedichten gefunden, sagt Bloom.
Das Album enthält vierzehn sehr unterschiedliche Kompositionen, bei denen sich Bloom von Fragmenten der Dickinson-Poesie und Prosa inspirieren ließ – vor allem von den sogenannten Envelope Poems, die unter dem Titel „The Gorgeous Nothings“ herausgegeben wurden. Das Album schließt mit einem amerikanischen Klassiker: Rodgers & Hart’s „It’s Easy to Remember“.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich Bloom auf dieses Wagnis und Experiment eingelassen hat. Sie bekannte gegenüber dem „Downbeat“, sie bewege sich immer weiter gegen den Trend der komplexen Komposition, die den Jazz derzeit präge. Sie versuche das weiter einzuschränken, das soweit wie möglich zu minimieren. Was sie inspiriere seien Ideen. „Ich versuche, mich selbst zu überraschen“, sagt sie.
Und das tut sie immer wieder. Das Ziel jeder Reise scheint ungewiss, auch wenn der Ausgangspunkt häufig eine scheinbar einfache Melodie ist oder ein einprägsames Arpeggio, aus denen erstaunliche Resultate entstehen. Das Spiel mit Crescendo und Diminuendo in den Phrasen gehört ebenso zum Instrument wie Tempowechsel. Konzept ist, aus minimalen Phrasen große Wirkung zu erwirken. Bei „Mind Gray River“ beginnt Mark Helias mit langsamen Bassriffs (bass), in das Dawn Clement mit ebenso sparsamen Pianoakkorden einsteigt, in das sich Bloom mit ihrem seelenvollen, manchmal ganz schwach bluesorientierten Saxofon hineinbohrt und Bobby Previte äußerst sensibel begleitet. Doch während sich der Bass meditativ an sein Konzept hält löst sich die Struktur auf, das Piano sorgt für mehrschichtige Melodien, Previte würzt das Spiel, das sich immer mehr aufeinanderzupendelt, mit kreativen Akzenten und Bloom lässt ihre Zügel frei.
Einem ähnlichen, jedoch komplexeren Vorgehen folgt „One note from/one Bird” (“is better than/a million words/A scabbard/ has — holds /but one/sword.“). Einem Pianoton folgen zögerliche weitere. Ein Break, dann eine flotte Phrasierung, auf das die anderen Instrumente aufspringen, Bloom fliegt in ihrer Improvisation geradezu dahin, voller Freude, zwischendurch durch Hall verlängerte Formeln. Das Piano spielt sehr fusion- und swingorientiert, der Bass voller Feinheiten und Vielfalt, das Schlagzeug reich, lebendig und farbenfroh.
Was für eine Kraft, was für eine Lebendigkeit auf „Hymn: You Wish You Had Eyes In Your Pages“! Die Grundmelodie bildet nur den Ausgangspunkt für völlig unterschiedliche Gefühlsausbrüche von allen Instrumenten.
Dieses Album bietet bei jedem Hören immer wieder Neues zu entdecken. Eine erregende Schatzkiste, die vieles zu ergründen bietet. Und Blooms Sound? Unwiderstehlich! Sie wurde geradezu zu recht bei der Downbeat-Kritiker-Umfrage mit großem Abstand zum zweiten Platz als führende Sopransaxofonisten gewählt. An ihr kommt derzeit wirklich niemand vor bei.
Das Album ist ab 8. September 2017 erhältlich, zum Beispiel bei Amazon.