Tortoise – die Band hat Kultcharakter. Kein Stück der Postrock-Band, die ab Ende der 80er Jahre mit ihren experimentellem Rock von Chicago aus eine Welle losgetreten haben, gleicht dem anderen. Diese Bewegung, die Indie, Progressive und Spacerock miteinander verschmolz, brachte Bands wie Massive Attack oder Portishead und später den Britpop im Sinne von Oasis und andere Spielarten des Rock hervor. Die Band ist zurzeit auf Tour.
Am Dienstag, 8. November, machen sie Halt in Bonn – in der Harmonie. Mit Doug McCombs (Jahrgang 1962, Bass, Multiinstrumentalist) sprach Cem Akalin. McComb spricht langsam, denkt bei praktisch jeder Frage lange nach, um die Worte fast mühsam auszusprechen.
Wenn man sich die Situation der Welt anschaut, dann könnte man wirklich annehmen, man steuert auf eine Katastrophe zu. Geht es darum in Eurem neuen Album?
Doug McCombs: Nein, nicht im Speziellen. Eher im Allgemeinen. Tortoise war immer eher auf eigensinnige Art eine politische Band. „The Catastrophist“ bedeutet für jeden von uns etwas anderes. Eine Interpretation ist sicherlich die, die du gerade vorgenommen hast. Auf jeden Fall sogar.
Das Titelstück klingt aber so gar nicht nach Weltuntergangsstimmung. Es startet eher wie eine Verhöhnung. Da ist so eine merkwürdige Fröhlichkeit. Und es erinnert mich an Zappas „Grand Wazzoo“-Phase. Was hat es also damit auf sich?
McCombs: Ich weiß es nicht! (lacht) Weißt du, jeder Tortoise-Song besteht aus dem Input jedes Bandmitglieds. Und wir reden eigentlich nicht wirklich darüber, worum es in einem bestimmten Song eigentlich geht. Jeder Song besteht aus mehreren Subtexten, von unterschiedlichen Persönlichkeiten eingebracht.
Wie stehst du selbst Katastrophen gegenüber? Hast du eher eine „nachrichtliche“ Haltung? Die eines Zeitungsleser? Die eines Voyeurs?
McCombs: Wahrscheinlich mehr die eines Voyeurs.
Chicago hatte sein blutigstes Wochenende seit langem. 17 Tote. Mehr als 600 Morde dieses Jahr. Beunruhigt dich diese Entwicklung nicht?
McCombs: Eigentlich nicht. Weißt du, Menschen sind ungewöhnliche Tiere, die ihrem eigenen Zyklus folgen. Ich habe in Chicago wirklich sehr schlimme Zeiten erlebt und auch richtig gute. Und ich glaube nicht, dass diese Phasen an irgend etwas Spezielles gekoppelt sind. Mir ist es jedenfalls nicht bewusst, dass Chicago solch eine Zeit durchmacht. Und ich habe keine Ahnung, warum das zurzeit so ist. Ich glaube, dass das nicht im Speziellen etwas mit Chicago zu tun hat. Es gibt in den USA zurzeit viel Unruhe und sehr viel Gewalt – vor allem gegen Minderheiten in manchen Gegenden. Etwa die Polizeigewalt, und ich verstehe echt nicht, was dieser Scheiß eigentlich soll.
Gehen Künstler, ein Musiker wie du, mit solchen Nachrichten anders um?
McCombs: Er sollte es wohl, aber ich wüsste im Moment nicht wie
Wie verfolgst du den Präsidentschaftswahlkampf?
McCombs: Ich bin natürlich betroffen. Ich bin insofern involviert, weil ich nicht will, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten wird. Aber ich will eigentlich auch nicht Hillary Clinton als Präsidentin haben.
Wer bedeutet die größere Katastrophe: Hillary oder Trump?
McCombs: An diesem Punkt habe ich keine Wahl und muss meine Stimme für Hillary Clinton geben. Wenn ich wirklich die Wahl hätte, hätte ich gerne Barack Obama für weitere acht Jahre als Präsident. Wenn er mehr Zeit hätte, könnte er viel mehr zum Guten verändern. Davon bin ich überzeugt.
Zurück zur Musik: „Shake Hands With Danger“ – das klingt auch nach einem epidemischen Desaster. Der fast monotone Rhythmus hat etwas asiatisches, dazu diese bedrohliche E-Gitarre. Da hat eine ziemlich andere Klangästhetik. Könnte eine moderne Variante von Talking Heads sein. Wie ist das Stück entstanden?
McCombs: Mit einer Grundidee von Jeff [Parker]. Er hatte da ein paar vage dissonante Loops.
Wie entsteht Eure Musik? John McEntire hat mal Duke Ellington zitiert, der der Überzeugung war, dass in jedem Musiker eine Melodie steckt, die er in immer anderen Variationen spielt. Und Ihr seht Euch als Konglomerat von individuellen Musikern. Wie geht es da ab?
McCombs: Ich stimme John da absolute zu. Jeder trägt eine vage, familiäre Melodie in sich, Teil seiner Persönlichkeit. Und durch das Aufeinandertreffen, das Mischen dieser Melodien bekommst du verschiedene Ergebnisse. Das kommt unserer Arbeitsweise sehr entgegen. Wir beginnen immer mit kleinen Ideen und bauen sie als Gruppe aus. Und das geschieht durch viele kleine Prozesse. Das geschieht häufig durch Schichtung. Und wenn wir das aufgenommen haben, überlegen wir, wie der Song am besten funktioniert.
Hat jeder eine bestimmte Aufgabe in diesen Prozessen?
McCombs: Nein, wir haben keine speziellen Rollen. Und das macht unsere Musik wahrscheinlich auch aus, dass nicht jeder immer dieselbe Rolle bei den Aufnahmen hat. Und deswegen kommen immer wieder unterschiedliche Konstellationen zusammen, was neue Formen und Sounds ergeben kann. Deswegen klingen unsere Stücke auch immer wieder anders. Es ist ein echter Prozess der Zusammenarbeit.
Theoretisch müsste die Musik eigentlich ja ziemlich überladen klingen. Tut sie aber nicht. Sie hat etwas sehr Klares, manchmal geradezu Klinisches.
McCombs: Ganz genau.
Da muss es sowas wie ein Grundverständnis geben. Was ist das?
McCombs: Das gibt es auch! Aber es ist nichts, worüber wir reden müssten. Es gibt dieses Grundverständnis, das ich schlecht beschreiben kann… (denkt nach) Es gibt Dinge, von denen wir eben wissen, dass sie funktionieren, und Dinge, die es nicht tun. Wir befinden uns alle auf einem Level, auf dem wir wissen, was unsere Musik interessant machen könnte.
Früher muss das einfacher gewesen sein. Da habt Ihr zusammen in einem Haus gelebt. Jetzt wohnen zwei von Euch in Los Angeles. Das erschwert den Austausch.
McCombs: Ja, es wird schwieriger…
Oder kommt das Eurem Konzept vielleicht sogar zugute?
McCombs: Es ist eine andere Welt. Ich schreibe Musik in Chicago, schicke es nach Los Angeles, bekomme einige Meinungen dazu und arbeite dann weiter dran.
„Gesceap“ ist ein altenglisches Wort für „Kreatur“. Schon das allein reicht, um vorsichtig zu sein.
McCombs: (lacht)
Die Musik ist ziemlich minimalistisch, würde gut zu einem experimentalen Horrorfilm passen. Klingt aber auch ziemlich deprimierend. Worum geht es Euch da?
McCombs: An diesem speziellen Stück hat McEntire eine Weile gearbeitet, bevor er es uns allem präsentiert hat. Das ist tatsächlich ein Song, bei dem er eine sehr konkrete Idee hatte. Er wollte es als reine Intonation haben. Das erwies sich aber als sehr schwierig, und wir haben es über ein paar Jahre immer weiter adaptiert. Es hat sich also immer weiterentwickelt, aber die Grundidee, sehr minimalistisch zu sein, blieb bestehen.
Dagegen ist „Yonder Blue“ ja schon fast ein Pop-Song! Das ist übrigens ein sehr ästhetisches Video. Sehr meditativ.
McCombs: Ja! In Chicago nennen wir das einen Dusty Groove. Das ist sowas wie ein Steppers Cut, ein langsamer Groove. Aber ja, es ist fast ein Pop-Song, aber wir dachten, er hat eine Art Soul-Groove.
Ich weiß, dass Ihr Euch nicht gerne einordnen lasst. Im Allgemeinen werden ihr unter dem Genre Post-Rock aufgelistet. Wo seht Ihr Euch. Was sind Eure Wurzeln?
McCombs: Naja, wir nennen uns einfach Rockband. Weiß Du, wir haben ja in den späten 70ern, frühen 80ern mit Punk-Rock angefangen. Auch wenn wir an allen möglichen Musikrichtungen interessiert sind. In unserer Vorstellung kann eine Rockband alles Mögliche sein. Wir bewegen uns vielleicht an den Grenzen des Rock. Aber… letztlich … was für eine Bedeutung soll das haben? Das sind ja nur Worte…
Was ist der Unterschied zu Eurer Arbeit im Studio und live?
McCombs: Ja, schon. Sie ist greifbarer – und sie ist laut! Und in einer Live-Situation verstehen die Leute vielleicht eher, warum wir uns als Rockband sehen.
Wie viel Spielraum für Kreativität, für spontane Improvisation und Veränderung gebt Ihr Euch auf der Bühne?
McCombs: Wir improvisieren eigentlich nicht viel. Einige Songs haben Momente, die offen für Improvisationen sind. Aber im allgemeinen sind es doch einfach Aufführungen von Songs!
Wenn ein Album ein Konzept im Sinne eines Gesamtkunstwerks ist, was ist dann ein Liveauftritt?
McCombs: Na ja, ich denke, das Ergebnis unserer Bemühungen ist – Kunst.