Von Dylan C. Akalin
Nach 136 Minuten fragt man sich, wie Matt Berninger mit dieser Intensität, die er in seinen Auftritt legt, eigentlich klarkommt? Der 53-jährige Frontmann und Sänger der US-amerikanischen Indie-Rock-Band The National sieht in seinen schwarzen Hosen und Polohemd, den ausgelatschten Schuhen, dem angegrauten Haar, dem Bart und der dunklen Hornbrille aus wie ein engagierter Literatur- oder Philosophie-Dozent einer amerikanischen Hochschule. Nicht wie ein Rockstar. In einer Werbeagentur würde er so sicher auch nicht auffallen.
Aber der Mann fesselt das Publikum vom ersten Takt an. 5500 Fans feiern eine Band, die sich durch ihre einzigartige Mischung aus tiefgründigen, oft rätselhaften Texten und melancholischem Sound eine treue Fangemeinde aufgebaut hat, und die wohl aktuell zu einer der einflussreichsten Bands zählen – und sind spätestens seit der engen Zusammenarbeit von Gitarrist Aaron Dessner und Matt Berninger mit Taylor Swift und ihrem so entstandenen wunderschönen Album „Folklore“ auch einem breiteren Publikum bekannt.
Andeutungen, Metaphern, versteckte Anspielungen
Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 besteht die Band aus Berninger und den Brüderpaaren Aaron und Bryce Dessner (Gitarre, Klavier) sowie Scott und Bryan Devendorf (Bass und Schlagzeug). Was ist es, was die Fans so anzieht? Die Texte sind voller Andeutungen, Metaphern, versteckten Anspielungen, es geht um Flucht vor der Verantwortung, um die schwierige Findung der eigenen Identität („Runaway“), um die emotionale Komplexität des menschlichen Daseins, um das Gefühl der Entfremdung und dem Wunsch dazuzugehören („Alien“), um Schmerz und Unordnung nach einer Trennung und der Suche nach Heilung und der Auseinandersetzung mit emotionalen Narben („Eucalyptus“).
Dazu kommt diese melancholische und introspektive Grundhaltung in der Musik, die getragen wird von Matts baritonalen Vocals, komplexen Gitarrenarrangements und einer tiefgründigen Rhythmussektion. Matt Berningers markante, tiefe Stimme verleiht den Songs eine besondere emotionale Intensität, die durch die oft komplexen und vielschichtigen Kompositionen der Dessner-Zwillinge verstärkt wird. Live hat man sich noch ein Bläserduo aus Trompete und Posaune geholt, was dem Sound eine noch vielschichtigere Tiefe verleiht. Übrigens: Der Sound auf dem KunstRasen war erstklassig, was gerade bei dieser Band so wichtig war.
Im Zwiegespräch mit seinem Publikum
Die Band ist bekannt für ihre sorgfältig ausgearbeiteten Arrangements, die sowohl akustische als auch elektronische Elemente integrieren. Ihre Musik reicht von ruhigen, introspektiven Balladen bis hin zu dynamischeren, fast hymnischen Tracks. „Tropic Morning News“ geht so in dieses schräge, hymnische Experimentelle, das an Wilco erinnert. Bei The National fühlt man sich aber auch an das Spätwerk von Leonard Cohen, an Nick Cave oder Joy Division erinnert. Das sind nicht nur die Inhalte, sondern ein durchgehendes Gefühl der Melancholie und Reflexion.
Für Matt Berninger und seine Band ist ein Konzert nicht nur die musikalische Livewiedergabe von Kompositionen. Matt befindet sich im Zwiegespräch mit seinem Publikum, er hat etwas mitzuteilen, etwas aus seinem tiefsten Inneren zu vermitteln, und dann kniet er auch mal am Bühnenrand, kauert, schlägt sich mit dem Mikro an den Kopf wie beispielsweise bei „Don’t Swallow the Cap“ aus dem Album „Trouble Will Find Me“ (2013). Der Titel ist eine Metapher, die als Warnung verstanden werden kann, die eigenen Emotionen und inneren Kämpfe nicht zu verschlucken oder zu ignorieren. Der Song thematisiert den Kampf mit mentaler Gesundheit, Depression und die Herausforderung, in einer chaotischen Welt zu bestehen. Zeilen wie „If you want to see me cry / Play Let It Be or Nevermind“ deuten auf die Rolle der Musik, hier von den Beatles und Nirvana, als emotionale Erlösung und Trostspender hin. Der Protagonist fühlt sich von der Last der eigenen Gedanken überwältigt, sucht aber dennoch nach einem Weg durchzuhalten.
Dann wieder klettert er runter, umarmt Fans, drückt sie an sich. Kein Wunder, dass ihre Live-Auftritte bei den Fans so eine Anziehungskraft haben. The National sind bekannt für ihre intensiven und emotional aufgeladenen Performances, bei denen Berninger in das Publikum eintaucht und eine direkte Verbindung zu den Fans herstellt. Die Band ist bekannt für diese Interaktion und die rohe Emotion ihrer Live-Shows.
„The System Only Dreams in Total Darkness“
„The System Only Dreams in Total Darkness“ aus dem Album „Sleep Well Beast“ (2017) behandelt das Gefühl der Unsicherheit und Verwirrung in einer komplexen und chaotischen Welt. Der Text ist irgendwie kryptisch, aber Matt erklärte einmal in einem Interview, dass dieses Lied von Donald Trumps Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2016 inspiriert wurde. So gesehen, ist es wohl eine Kritik gleichzeitig am „System USA“ als auch am Durchschnittsamerikaner, der manche Dinge durch die idealistische US-Brille sieht, lieber in seinem Haus sitzt und betet, statt seinen Kopf zu gebrauchen: „The system only dreams in total darkness/Why are you hiding from me?/We’re in a different kind of thing now/All night you’re talking to God“. Der Song schafft jedenfalls eine düstere und mysteriöse Atmosphäre.
Dagegen ist „I Need My Girl“ ein „einfacher“ Song über die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen und die Herausforderungen in einer Beziehung. Der Song erzählt von der Distanz und den Schwierigkeiten, die in einer Partnerschaft auftreten können, insbesondere wenn man physisch oder emotional getrennt ist. Zeilen wie „I am good, I am grounded / Davy says that I look taller / I can’t get my head around it / I keep feeling smaller and smaller“ spiegeln die Unsicherheit und das Bedürfnis nach der Unterstützung und Nähe des Partners wider. Der Song handelt von der Anerkennung der eigenen Schwächen und der Erkenntnis, wie sehr man die andere Person in schwierigen Zeiten braucht.
„Rylan“ singt Matt mit Bess Atwell
„Rylan“ singt Matt mit Bess Atwell. Der Song aus dem Album „I Am Easy to Find“ (2019) erzählt die Geschichte von Rylan, einem Charakter, der sich unwohl in seiner Umgebung und seinem Leben fühlt. Die Texte thematisieren das Gefühl der Andersartigkeit und die Suche nach einem Platz in der Welt. „Rylan, you should try to get some sun / You remind me of everyone“ spricht die Schwierigkeiten an, die eigene Identität zu finden und sich von der Masse abzuheben. Ein Song über die Suche nach Sinn und Zugehörigkeit, was The National viel beschäftigt.
Während des Songs „England“, in dem er von der Sehnsucht nach einer Verbindung und der Enttäuschung, dass diese Reise nicht die erhoffte emotionale Erfüllung bringt, signiert er nebenbei die Platte eines Fans in der ersten Reihe. Als dann jemand im Publikum zusammenbricht, ruft er den Sanitäter und die Band wartet fast zehn Minuten, bis der Gast versorgt ist – und ein Piano leitet in „Graceless“ ein, in dem Schuld, Versagen und das Streben nach Erlösung ein Thema sind. Der Song beschreibt das Gefühl, seine Würde und Anmut verloren zu haben, und den verzweifelten Versuch, sich selbst zu retten. Die Zeile „Graceless / Is there a powder to erase this?“ beschreibt wohl den Wunsch, die Fehler der Vergangenheit ungeschehen zu machen.
Höhepunkte? Sind unmöglich zu benennen
Höhepunkte? Sind unmöglich zu benennen. Davon gibt es zu viele heute Abend. „Fake Empire“ vom Album Boxer (2007), in dem er von Desillusionierung, einem Gefühl des Überwältigtseins und der Flucht vor alltäglichen Sorgen singt, quält er sich sichtlich auf der Bühne, rauft sich die Haare, fleht: „Turn the light out, say goodnight / No thinking for a little while / Let’s not try to figure out everything at once“. Und dann steigt diese leicht barocke Trompete ein und trägt uns hymnisch durch diese schwüle Sommernacht. Was für ein intensiver Konzertabend, der mit einer fast a cappella gesungenen Version von „Vanderlyle Crybaby Geeks“ endet. „All the very best of us / String ourselves up for love“, heißt es da. „Das Allerbeste von uns / Wir hängen uns für die Liebe auf“, eine bittersüße Reflexion über die menschliche Natur und die unvermeidlichen Schmerzen, die mit Liebe und Leben einhergehen. Danke The National!