„Surfing The Crowd“: Mehr als 3000 Fans jubeln Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln zu

Konzertkritik ohne Bezahlschranke

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Von Dylan C. Akalin

Die Arpeggios moussieren glasklar über den Roncalliplatz in Köln. Darüber legt sich ein hoher, sparsam eingesetzter Synthesizer, der wie eine Singende Säge klingt, und als Cello und Bass einsetzen, da ist es, als würde ein sanfter, warmer Luftstrom vom massiven Dom aus über die etwas mehr als 3000 Fans wehen. Chilly Gonzales sitzt wie üblich im Schlafrock am Bechstein-Flügel, die Füße in den abgewetzten Pantoffeln wippen im Takt. Der Opener „Lac du cerf“ bewegt sich dann weiter in ein Spannungsfeld zwischen Electronica und Fusion.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Doch schon mit dem zweiten Stück geht es gewohnt durchgeknallt weiter. Bei Songs wie „Gonzo Bongo“ muss man verdammt auf der Hut sein, um den blitzschnellen, bisweilen völlig surreal-verrückten Assoziationen und Geschichtsfetzen, Gedankensprüngen aus den irren Hirnwindungen des Künstlers folgen zu können. Und als wäre es nicht so schon wahnsinnig genug, verändert er spielerisch die Texte bisweilen, das reimt sich „Gazpacho“ auch zu „Gestapo“. Ja, Provokation gehört ebenso zum Programm, wie ganz viel Gefühl und eben dieses musikalische Genie, das unter der imaginären Narrenkappe steckt.

Chilly Gonzales kennt nur seine eigenen Regeln

Chilly Gonzales kennt nur eine Regel, seine eigene. Vielleicht ist der Mann, der vor 52 Jahren als Jason Beck im kanadischen Montreal geboren wurde, auch so schwer in eine Schublade zu stecken (Davon abgesehen, dass er dafür viel zu quirlig wäre und sich heftig wehren würde). Diese diffusen Grenzen zu Jazz, Klassik, Artrock, Hip-Hop und Elektro verschmelzen auch schon mal in einem einzigen Stück bei ihm.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

„Advantage Points“ ist eines seiner bekanntesten Stücke. Da zeigt sich Gonzales‘ Fähigkeit, komplexe Rhythmen und harmonische Strukturen zu verbinden. Die Melodie ist eingängig und doch anspruchsvoll, was das Stück sowohl zugänglich als auch tiefgründig macht. Diese intensiven Akkorde und die hämmernden Passagen sorgen für den ersten richtig tosenden Applaus des Abends.

Comedy, Erzählkunst und Publikumsinteraktion

Gonzales ist nicht nur ein vielseitiger Musiker, der für seine außergewöhnliche Virtuosität am Klavier, seine innovativen Kompositionen und seine charismatische Bühnenpräsenz bekannt ist. Der Mann ist auch ein begnadeter Entertainer. Die Konzerte von Chilly Gonzales sind einzigartige Erlebnisse, die weit über herkömmliche Klavierkonzerte hinausgehen. Er kombiniert seine geniale Musikalität mit einer Performance, die Elemente von Comedy, Erzählkunst und Publikumsinteraktion umfasst. Dazu hat er ein Gespür dafür, wie er Intimität mit seinem Publikum schafft. „Guten Abend, Wahlheimat“, ruft er. „Also the people over there in the Wohnungen.“ Der Mann lebt immerhin schon seit mehr als zwölf Jahren in Köln.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Nicht nur der Opener, auch weitere Stücke aus seinem im September erscheinenden neuen Album „Gonzo“ sein, kündigt er an. Die Stücke seien also alle „ofenfrisch“, Fehler also unvermeidbar, warnt er. Und erfreue sich mal wieder raus aus der etablierten Philharmonie zu kommen, weg von den „sophisticated, rich and white audience, weg von den Eitelkeiten and where I can be on the streets with you“, ruft er, bevor er mit energischem Piano in „Smothered Mate“ einleitet, das im Mittelteil durchaus auch von Supertramp sein könnte, mit diesem hymnischen Klavier, das von Streichern und Drums unterstützt wird, und rockig wird es am Ende auch, als er in eine wilde Konversation mit seiner Band tritt.

Solo Piano

Was dann folgt, ist ein langer Piano-Solo-Block, in dem er „Rideaux Lunaires“, „Kenaston“, „Prelude in C Sharp Major“, „Chico“ und das vom Publikum gefeierte „Dot“ einbindet. Wie Gonzales rund um fünf einfache Noten ein verspieltes, introvertiertes Stück macht, das an den Folkorientierten skandinavischen Jazz eines Martin Tingvall erinnert, ist wirklich genial. Im Laufe des Solos erklingen Variationen zu „Für Elise“, vertrackt-rhythmische Arpeggios, sonatengleiche Passagen und dramatische Momente, in das die Band wunderbar einsteigt.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Seinen Protestsong „Fuck Wagner“ hat er ja schon in Jan Böhmermanns TV-Show präsentiert. Da begleitet sich Gonzales selbst auf der Pauke, Wagners Lieblingsinstrument, sagt er augenzwinkernd. „Ich liebe Cologne“, sagt er. Und er lebe seit 2012 „bescheiden im Schatten des Riesen Dom“. Er empfinde sich selbst als von diesem Vaterland adoptierten Schwiegersohn. Und da habe er backstage diesen Song auf einem Stück Toilettenpapier aufgeschrieben. Denn er könne es nicht akzeptieren, dass in solch einer Stadt, überhaupt in einer deutschen Stadt noch Straßen nach diesem schlimmen Antisemiten benannt seien.

Richard Wagner, der Antisemit

„Das Judentum in der Musik“, habe der durchaus geniale Komponist 1869 geschrieben. Der Mann sei ein „fucking Antisemit“ gewesen. Er habe seinen Vater gefragt, wie er als Jude das Musik von diesem Mann lieben könne. Man müsse die Kunst von dem Künstler trennen, habe der geantwortet. „Aber die Straße heißt nicht Parsifal-Straße oder Rheingoldstraße.“ Daher unterstütze er eine Initiative in Köln, seiner Wahlheimat, die die Richard-Wagner-Straße umbenennen will. „Let’s fuck Wagner“, ruft er der johlenden Menge zu. „Unterschreibt die Petition.“ Für ihn ist klar, wie diese Straße in Zukunft heißen solle, nämlich nach einer wahren Künstlerin, die ebenfalls lange in Köln gelebt habe: Tina Turner. Dass dann eine wunderbare Neuinterpretation mit der kanadischen Sängerin Peaches kommt, war fast klar.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Was für ein aufregender Konzertabend, der mit vier Zugaben endet. Bei „Summer of ’69“ erklingt Bryan Adams Stimme aus dem Off, bei „Never Stop“ reißt die Band am Ende die Fäuste in den Himmel, und dann marschiert der Meister bei „Surfing the Crowd“ durch die Menge und lässt sich sogar noch über deren Köpfe hinwegtragen, liegt nach fast zwei Stunden strampelnd auf der Bühne, wirft die Pantoffeln weg und lässt sich noch einmal heftig bejubeln.

Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski
Chilly Gonzales auf dem Roncalliplatz Köln 2024 FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski