Aglaja Camphausen und Thomas Falke haben mit „underwater calling“ ein Album geschaffen, das eine völlig selbständige musikalische Sprache spricht. Die Reduktion der Besetzung auf Stimme, Kontrabass und Cello bietet viel Raum für musikalisches Empfinden und zeigt die Quintessenz der Songs. Vielleicht könnte man es als Kammer-Folk-Jazz-Pop bezeichnen. So berühren beispielsweise ihre Interpretationen des Tom Waits Songs „All The World Is Green“, Willie Nelsons „I Never Cared For You“ oder Tim Hardins „If I Were A Carpenter“, die auf das Wesentliche konzentriert sind. Aglaja Camphausen, die Vioncello und Gesang studierte, ist ebenfalls wie der Kontrabassist Thomas Falke klassisch ausgebildet, jedoch von den unterschiedlichsten musikalischen Genres beeinflusst worden. Die Songs wurden als homogenes Gesamtwerk aufgenommen.
„underwater calling“ erscheint bei Meyer Records in der Reihe „Kitchen Recording Series“ am 14. Januar 2022 als Vinyl, CD und digitaler Download.
Aglaja Camphausen über „underwater calling“:
Wenn ich Musik mache, wenn ich singe und wenn das Instrument von selbst zu klingen beginnt, ist es, als wäre ich in einer anderen Welt – einer Zwischenwelt.
Dann gibt es Bilder, die entstehen, die einen räumlichen Eindruck von Tiefe vermitteln. 3D-Bilder, die man eine Weile anschaut und ein neues Sehen einsetzt. Wenn sich die Augen darauf eingestellt haben, kann man sie wandern lassen und in eine neue Welt blicken. Das nennt man stereoskopisches Sehen.
Und wenn das Bewusstsein die richtige Einstellung in diesem Strom von Musik, Klang und Text erreicht hat, wenn ich eine Weile in die Musik hineingehört habe, bis sich ein neues Gefühl einstellt, komme ich in einen Zustand, in dem Töne, Melodien, Klänge und Sätze andere Dimensionen annehmen. Ich weiß nicht, wohin es mich führen wird. Atmosphäre, Licht, Stimmung und Ausdehnung, ich kann mich im Fluss umsehen. Dann ist es wichtig, ruhig zu bleiben, diese magische Welt nicht zu stören und sie erst einmal wirken zu lassen. Erst dann kann ich anfangen, eine bestimmte Ecke genauer zu betrachten. Ich schaue mir alles genau an, neugierig, ruhig, ohne zu urteilen. Das ist spannend, denn ich weiß nie, was sich als Nächstes entfalten wird.
Fantasiereise in die Anderswelt
Dann endlich beginne ich, diese Welt zu beeinflussen. Mit Stimme, Tonfall, Intensität und Tempo, aber vor allem mit meinem Bewusstsein, meinem Willen. Bewusstheit im Unbewussten. Ich beeinflusse ganz sanft und vorsichtig verschiedene Parameter und lasse mich auch hier leiten. Von was eigentlich? Ich wage es, eine Farbe deutlicher leuchten zu lassen, ein Gefühl stärker zu fokussieren, einen Klang zu nuancieren. Ich trübe oder lichte die Stimmung leicht: blass oder strahlend, laut oder leise, sanft oder brutal, pastellig oder grell oder irgendetwas dazwischen. Damit beginnt meine Fantasiereise in die Anderswelt, in der ich vorsichtig mit der Entrückung umgehen muss, um sie nicht aus Versehen zu stören.
In diesem Kosmos macht es keinen Unterschied, um welche Art von Musik es sich handelt, denn die Wahrheit ist: Berührt wird, was berührt. Und damit meine ich den Interpreten, damit meine ich mich. Alles, was mich tief berührt, wird auch den Zuhörer tief berühren, wenn es mir gelingt, diese Tiefe zum Klingen zu bringen. Im Idealfall kann ich ein Publikum mit in meine Welt nehmen und durch ihre Energie, durch ihre Vorstellungskraft erweitert sich diese Welt und nimmt unmerklich andere Dimensionen an. Auf diese Weise schaffen wir gemeinsam unsere musikalische Erfahrung, es ist ein Geben und Nehmen. Je besser also die Musik ist, je mehr sie in mir Resonanz findet, desto aufregender ist sie. Und das Eintauchen in ihre Sphäre macht süchtig.
Die Komposition legt die Schienen, die Lokomotive ist das Instrument. Dann beginnt das Mäandern durch Landschaften, mit und ohne Mitreisende.
So fühlt sich stereoskopisches Hören an.
Mein Elternhaus war geprägt von klassischer Musik; mein Vater war Geiger im Gürzenich-Orchester in Köln. Zu seinem Hörvergnügen ließ er im Wohnzimmer Mozart oder Wagner in übertriebener Lautstärke spielen. Musik, auch klassische Musik, war immer mein tiefstes Gefühl, mein größtes Talent, mein Tor zur Phantasie. Während meines Cellostudiums habe ich endlose Diskussionen mit Kommilitonen geführt und versucht, sie davon zu überzeugen, dass es möglich ist, eine Farbe zu spielen. Auch heute noch glaube ich, dass es möglich ist. Die Kraft der Assoziation müsste so stark sein, dass der Zuhörer das Gleiche „sieht“ wie man selbst. Das Erlernen eines Instruments erfordert jedoch neben dieser Musikalität und Vorstellungskraft vor allem jahrelanges Lernen. Technik, Fingersätze, Bogenübungen usw. lernt man nur, um sie später wieder zu vergessen und die größten technischen Schwierigkeiten auf dem Weg in die musikalische Zwischenwelt sorglos zu verinnerlichen.
Meine Einflüsse waren mannigfaltig. Frank Zappa, verehrt von meinem großen Bruder, den ich wiederum verehre. Er hatte alle Platten von Zappa und zog mich oft in sein Zimmer, um mir ein geniales Gitarrenriff, eine verrückte Idee, einen absurden Text vorzuspielen und mich so in die Welt von Zappa einzuführen. Und dann: Can! in allen Plattenstapeln der Familie zu finden. Ich selbst habe schon früh mit meinen ersten Ersparnissen angefangen, Can-Platten zu kaufen, die ich immer noch mit viel Gefühl höre. Ich hatte das Glück, mit dem Schlagzeuger Jaki Liebezeit zusammenzuarbeiten, als ich für Aufnahmen mit dem Singer-Songwriter Robert Coyne engagiert wurde, zunächst als Cellist, dann als Backgroundsänger.
Drums of Chaos im Stollwerck
Ich folgte Liebezeit, als er mit Drums of Chaos im Stollwerck oder im Rhenania in Köln trommelte. Ich würde überall hingehen, um ihn spielen zu hören. Eine Sache, die er sagte, die ich sehr schätze, ist, dass das Metronom sein größter Lehrmeister war. Auch ich sehe in einem klaren, unerbittlichen Rhythmus eine große Freiheit. Und natürlich ist da Holger Czukay! Er hat meine Jugend so unendlich bereichert mit seiner rhythmischen, melodischen und poetischen Elektronik. Wie ein Wegbereiter für Electro und House erschien mir diese Musik oft genial und Czukays Album „On the Way to the Peak of Normal“ drehte sich ständig auf meinem Plattenteller.
So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass ich nach einer Karriere als Cellist und Gastgeber eines eigenen Klassiksalons nun ein Album vorlege, das eine völlig neue musikalische Sprache spricht. Die Auswahl der Stücke und die Reduktion der Besetzung auf Stimme, Kontrabass und Cello bietet so viel Raum für mein musikalisches Empfinden, dass es ein logischer Schritt an diesem Punkt meiner Karriere zu sein scheint: die Reduktion auf das Wesentliche. Weg mit dem Schnickschnack, rein mit der Quintessenz.
In dem Kontrabassisten Thomas Falke, der sich so bereitwillig mit mir auf die Suche nach dem Wesentlichen gemacht hat, habe ich den perfekten Komplizen gefunden. Denn er hat eine tiefe Musikalität und einen Blick über den Tellerrand dessen, was als klassisch gilt. Die Zusammenarbeit mit ihm war wirklich fruchtbar. Wir haben nicht viel geredet, sondern rein musikalisch kommuniziert und immer dann aufgehört, wenn sich zu viel einschleichen wollte. So sind diese Arrangements entstanden. Sie versuchen, sich der Essenz der Lieder durch seltene Töne und den Mut zum Innehalten zu nähern. Gleichzeitig gelingt es Thomas, an den richtigen Stellen wunderbar zu grooven.
„Dust, Flesh and Bones“
Als Initiator und Produzent dieses Albums hat Werner Meyer mit seinem untrüglichen Geschmack den größten Anteil an dieser Aufnahme. Er hat die erstaunliche Gabe, gute Musik und gutes Musizieren sofort zu erfassen, auch wenn ihm das Genre oder der Stil fremd sein mögen. Für ihn zählt nur, ob „es mich anspricht oder kalt lässt“. Ich habe immer gewusst, dass man sich auf seinen Geschmack verlassen kann, und bei der Auswahl der aufgenommenen Lieder hat er wieder einmal sein Talent bewiesen, zu wissen, was zu mir, zu uns passen könnte. Einer der einflussreichsten Songs der Folk-Ära, „Four Strong Winds“ von Ian Tyson, war meine erste Aufnahme mit dieser Besetzung, für das Meyer Records Album Volume One. Damals habe ich zu ihm gesagt: Werner, für dich würde ich fast alles machen, aber Country? Dann wurde diese Version von Thomas und mir ein heimlicher Hit auf dem Album, weil wir es gestrippt und auf uns zugeschnitten haben. Und Werner hatte das alles schon vorher gewusst.
Für seine Kitchen Recording Series haben wir alle Songs dieser Platte aufgenommen, einen nach dem anderen an einem Sonntagnachmittag. Kein Sicherheitsnetz, kein Schnitt. Jeder Song homogen. Wir fühlten uns high. Alles wurde in Werner Meyers Küche aus der Jahrhundertwende aufgenommen, die eine so tolle Akustik hat. Jeder, der schon mal aufgenommen hat, weiß, was es heißt, einen 5-Minuten-Titel wie „Dust, Flesh and Bones“ am Stück aufzunehmen: ein falscher Ton, ein Knarren des Stuhls, wenn man sich hinsetzt, um ein Cello-Solo zu spielen, bedeutet schon, alles noch einmal zu machen. Und wieder tief in die Sensation eintauchen. Aber wie durch ein Wunder ist es uns gelungen, stimmungsvolle Gesamtaufnahmen zu machen.
Die Lieder, die Werner vorschlug, waren mir alle vorher unbekannt und wurden doch sofort zu Juwelen. Da ist zum Beispiel „Anyone and Everyone“, das mich tief berührt. Es wurde, wie auch andere Lieder auf unserer LP, von der einzigartigen Lhasa de Sela geschrieben. Der Text, auf den ersten Blick tröstlich und voller Licht und Zufriedenheit, sät subversiv Zweifel, als ob alles Glück zerbrechlich wäre: „Es gibt nicht genug Atem in einem einzigen Tag, um zu beten, dass es allen gut geht.“ Um diese Zerbrechlichkeit zu erzeugen, habe ich die Stimme am Anfang des Liedes einfach verloren klingen lassen. Noch mehr berührt mich die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit, die aus meiner Lieblingsnummer „Dust, Flesh and Bones“ (Staub, Fleisch und Knochen), ursprünglich von Matt Elliott, sickert. Dieser Song zeigt, wie vergänglich, ja morbide alles ist. „In dem ungleichen Lärm des Chaos, das dich umgibt, ist es schwer zu wissen, welche der Stimmen, die du hörst, deine eigene ist.“ Hier beobachteten Thomas und ich, wie sich unwillkürlich Pausen einschlichen, wie ein Abtasten, wie ein immer neues Abtasten. Zweideutigkeiten sind es, die meine Phantasie anregen, und sie hallen spürbar in mir nach.
„If I Were a Carpenter“
Schön, dass es Stücke wie „If I Were a Carpenter“ oder „Memories are Made of This“ gibt (für das Thomas eine wunderbare und klare Version für Cello und Bass als Intro geschrieben hat!) Sie wirken einfach luftig, wolkenlos (was sich wie ein Widerspruch anfühlt) und voller Engagement. Das ist eindeutig ein wohltuender Einfluss von Thomas, der immer viel Positives mitbringt.
Diese Aufnahmen legen Zeugnis ab von dem, was sich in der Musik ausdrücken lässt und nicht in Worte gefasst werden kann. Zeugnis von dem, was ich beim Musizieren, beim Erleben der Songs empfunden und wahrgenommen habe, und das ist nie vorhersehbar. Das, womit ich in Resonanz gehe, sowohl mit dem Licht als auch mit der Dunkelheit.
Tanze, auch wenn der Boden wackelig ist, aber tanze. Wage es. Denn nichts ist sicher. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesen Worten ist für mich erst durch unsere transparente und reduzierte Konstellation möglich geworden. Danke Thomas. Danke Werner.
Underwater Calling. Ich wünsche euch Assoziationen und Ausflüge in Fantasiewelten beim Hören dieses Albums. Die Hauptsache ist die Musik, denn die Wahrheit ist: Berühren ist, was berührt. (Quelle: Promoteam Schmitt & Rauch)