Das Night Of The Prog Festival 2019 beendet Steve Hillage mit Mitgliedern der legendären Band Gong. Anathema liefert solide ab, All Traps On Earth begeistert.
Von Dylan Cem Akalin
Fliegende Fische, Cannabisblätter, die zu Sonnen mutieren, fantastische Blüten wie fremde Welten und jede Menge abstrakte Formenwirbel und Ströme aus Licht und Farben begleiten die Musik voller sphärischer Gitarren, satten Bassläufen und gewaltigem Drumspiel. Die Musik von Steve Hillage und der französischen Fusion/Space-Rock-Band Gong gehörte zum Soundtrack der Flippie-Hippie-Subkultur der 70er-Jahre. Die Mischung aus fernöstlichen Harmonien, Rock, Klassik und Jazz zu einer abgedrehten, intelligenten und doch hochemotionalen Musik voller Wendungen, Drehungen und halluzinogenen Soundcollagen machten aus Hillage und Gong zu sowas wie Jünger eines futuristisch angehauchten Progressive Rocks. Und die Truppe hat nichts von ihrer virtuosen, kreativen Eigenständigkeit und Ausdruckskraft verloren. Vielleicht sogar dazugewonnen. Das machten Steve Hillage (Lead Guitar, Lead Vocals), seine Frau und Weggefährtin Miquette Giraudy (Synthesiser, Vocals), Kavus Torabi (Guitar, Vocals), Fabio Golfetti (Glissando Guitar, Vocals), Dave Sturt (Bass, Vocals), Ian East (Saxofon) und Cheb Nettles an den Drums Sonntagnacht unmissverständlich klar.
Merkwürdigt entrückt
Auch wenn bei manchen Sequenzen Erinnerungen an Zappa, Pink Floyd, Softmachine oder King Crimson wachwerden: Steve Hillage hat einen völlig anderen Ansatz. Beim dritten Stück des Abends „Aftaglid“, dieser Song von 1975 mit dem merkwürdig-entrückten Text, da lösen sich Blütensamen und fliegen davon, Universen entstehen, überlappen sich, bilden neue Dimensionen. Und genau das ist es, was der 67-jährige Londoner im Sinn hat – die Erforschung neuer musikalischer Dimensionen.
Und ihn dabei zu begleiten, ist ein großer Spaß. Viele tanzen, im oberen Bereich der Freilichtbühne hängen viele auf Decken und Liegen rum, so manche süßliche Rauchschwade weht durch die Dämmerung. Natürlich, in dieser Nacht schwelgen viele in Nostalgie, weil für einige von uns so die Vergangenheit zurückkehrt – mit der Musik aus den verehrten Seventies-Alben L, Green, Fish Rising und Motivation Radio.
Es ist mindestens ein Jahrzehnt her, seit Steve Hillage das letzte Mal sein klassisches 70er-Jahre-Material live gespielt hat. Und so ist sein Auftritt hier oben am Loreley-Felsen tatsächlich aufsehenerregend. Und dann auch noch mit der aktuellen Inkarnation von Gong, die gerade ein neues Album herausgebracht haben — wahrhaft eine kosmische Paarung.
Üppiger Ideenreichtum
Hillage ist ein Gitarrist, der in üppigem Ideenreichtum lebt. Wie er scheinbar mühelos Soundteppiche raushaut oder schräge Soli auf seiner Steinberger GL2T-Gitarre spielt, ist großartig. Nur der Gesang ist, höflich ausgedrückt, nicht immer auf dem Punkt. Das gilt übrigens auch für die zweite Stimme von Kavus Torabi. Der 47-Jährige Brite ist darüber hinaus aber ein Gitarrist mit einem sensationellen Sound und einem Spiel, das an David Gilmore erinnert. Er sorgte im Zusammenspiel mit Hillage für unterstützende Riffs und harmonische Begleitung.
Der Sound war wieder einmal grandios, und laut war`s. hinten genau richtig, vorne nahe am Grenzbereich. Sturt war ein Fels am Bass, Fabio sorgte für kosmisches Glissando, und East sorgte mit seinem Sax für ein wenig Jazz in der Musik. Und natürlich war da noch Miquette Giraudy, die mit ihrem Tisch voller Elektronik und Synthesizern für raumfüllende Klangereignisse sorgte.
Auf dem Set standen auch eine glückseligmachende, psychedelische Version von „It’s All Too Much“ von den Beatles und eine spacige Interpretation des Donovan-Songs „Hurdy Gurdy Man“. Der „Salmon Song“ entstammt wie „Aftaglid“ vom ersten Hillage-Soloalbum und sind jeweils eigenständige Opera voller verzerrten Rockgitarren über brandende Synthesizer, klagende E-Gitarren bis hin zu indischen Jingles und Glocken. Man kann sich fallen lassen in diese funkelnden Strukturen, aus denen immer wieder ein anderes Instrument in den Vordergrund tritt. Das alles ist leicht avantgardistisch und komplex mit immer wie Inseln auftauchenden Glücksduschen voller eingängigeren Instrumentalstrecken. Einfach nur klasse.
Melancholischer ProgRock
Anathema haben die Metamorphose vom Death Doom und Gothic Metal zu ihrem sehr eigenen melancholischen, poporientierten Progressive/ Alternative Rock vollzogen. Als ich die Band zuletzt vor sieben Jahren in Köln gehört habe, habe ich sie irgendwie rockiger in Erinnerung. Die Truppe um Gitarrist Vincent Cavanagh hat die Schaffung von emotionalen Spannungsbögen perfektioniert. Sie weiß genau, wie man Stimmungen mit Sounds verstärkt. Besonders ist das bei dem zweiteiligen „Untouchable“ zu beobachten. Bei den Wiederholungen der Zeilen „I had to let you go/To the setting sun/I had to let you go/And find a way back home“ sehe ich schräg vor mir zwei Frauen mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen den Song mitsingen. Sind das Tränen? Ich schaue in meiner Reihe. Zwei umarmen sich – mit Tränen in den Augen.
Die Band erreicht die Leute mit der Musik. Kann man mehr erwarten? Indes ist das ein krasser Sprung von den eher intellektuellen und kopflastigen Schweden von All Traps On Earth zu den Briten mit ihrem bisweilen recht süßlichen und prächtigen Soundgebirgen. Das muss man erst mal überwinden.
Mich haben die Schweden mit ihrem avantgardistischen, manchmal an Softmachine und die ganz frühen King Crimson erinnernden, jazzigen Progrock mehr beeindruckt. Doch Anathema spricht eben die Seele an – und trifft mit den Songs ins Schwarze. Ich finde auch, dass die Stimmen von Daniel Cavanagh, der zudem das Piano und die Leadgitarre bedient, und Lee Douglas, die ja die Schwester von Drummer John ist, hervorragend harmonieren. Die Ausdruckskraft beider Sänger ist enorm.
Vielschichtige Klangschöpfungen
Mühelos mäandern Anathema zwischen psychedelischen Atmosphären und treibenden Rhythmen. Die reduzierten Pianos schlagen effektvoll durch, der Bass unterstreicht den oft instrumentalen Minimalismus mit fortwährender Präsenz. Die Band ist eine Meisterin der vielschichtigen Klangschöpfungen. Klanglich schwingt eine ziemliche Portion Melancholie mit – bis auf den Einstieg mit dem Instrumental „San Francisco“.
All Traps On Earth
Verlorene Pianoläufe wie dramatisch-schräg aufschlagende Regentropfen, eine irgendwie querlaufende, doch melodische Gitarre, die mit dem Volumeregler Crescendo-Sounds kreiert, plötzlich einsetzende Kirchenorgeln, Bach’sche Sequenzen zu Folkrockigen Querflöten, freie Klarinetten und Saxofoneinsätze – das ist die Musik von All Traps On Earth, der neuen Band des schwedischen Änglagård-Gitarristen Johan Brand, der mit Keyboarder Thomas Johnson und Schlagzeuger Erik Hammarström gleich zwei weitere Änglagård-Mitglieder mitbringt. Klar, dass die Band als letztes Stück einen Song ihrer alten Band spielen: Jordrök, ein dreiteiliges Opus mit vielen Zitaten aus noch mehr Genres.
Das episch lange „Omen“ weist zwischen Melotronmassiven, Bassklarinetten und ironischen Italo-Western-Soundtrack-Einschüben auch Metal-Ausbrüchen durchsetzen. So manches erinnert in der Tat an King Crimson.
„Bortglömda Gårdar“ erzählt auf melancholische Art die Geschichte von verlassenen Farmen und Herrschaftshäusern. Die Kompositionen sind so vielfältig wie der Einsatz der Instrumentierung und reicht hier vom Klezmer-Mood über Klassik, Rock bis hin zu freien Jazzformen. Exzellent!