Sagenhaftes Erlebnis: Ayreon führt „01011001 – Live Beneath The Waves“ im 013 Poppodium, NL-Tilburg, auf

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg. FOTO: Peter "Beppo" Szymanski

Von Dylan C. Akalin

Da staunt sogar Joost van den Broek über soviel Eloquenz des sonst so bühnenscheuen und wortkargen Arjen Lucassen. Fünf Shows an drei Tagen hat der kreative Kopf des Progressive-Metal-Projekts Ayreon im niederländischen Tilburg organisiert. Alle Konzerte im 013 Poppodium sind natürlich ausverkauft. Somit durften dieses Jahr 15.000 Fans aus mehr als 60 Ländern die umwerfende Show sehen. Das Pärchen neben mir ist eigens aus Chile angereist, schräg vor mir noch Fans aus Mexiko. Bei Arjens kurzer Ansprache bei der Nachmittagsshow am Samstag halten viele ihre Fahnen hoch: Frankreich, Großbritannien, USA, Schweden…

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: Arjen Lucassen FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

„Less is More“, laute sein Credo, sagt der gutgelaunte Muliinstrumentalist und Komponist, der an diesem Abend einige Male als Sänger auf die Bühne kam, das erste Mal mit langem rotem Mantel bei „Connect The Dots“. Der Mann hat Humor und verfügt noch dazu über eine gehörige Portion Selbstironie. Denn das, was wir da über gut zweieinhalb Stunden erleben, ist alles andere als „Weniger“. Noch dazu gehört das Album „01011001“ zu den aufwendigsten Produktionen des 63-jährigen Niederländers. Allein 17 Sängerinnen und Sänger sind an der Science-Fiction-Rock-Oper beteiligt. „Ich hätte selbst nie gedacht, dass ich das mal live aufführen würde“, sagt er selbst

Bühne wie eine Industriekulisse

Nullen und Einser schwirren über den schweren Vorhang. Dazu Hämmern und Rauschen wie aus einem Stahlwerk. Mit einem donnernden Grollen geht der Vorhang auf. Blaue Neonstelen leuchten aus einer Industriekulisse. Auf dem Screen im Hintergrund treiben riesige Zylinder eine rätselhafte Maschine an. Die Bühne ist eine vertikale Gerüstkonstruktion mit drei Ebenen: Links oben steht Keyboarder Joost van den Broek, rechts oben die Backing-Vokalisten Marcela Bovio, Irene Jansen und Jan Willem Ketelaers. Eine Etage drunter trommelt Ed Warby auf der rechten Seite, links die Kammermusiker Jeroen Goossens (Flöte), Ben Mathot (Violine) und Jurriaan Westerveld (Cello). Die Bühnenebene teilen sich die Gitarristen Marcel Coenen und Timo Somers mit Johan van Stratum am Bass.

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: Tom Englund FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Das elektronische Stampfen wird schnell von heftigen Riffs abgelöst. Allein beim Opener „Age Of Shadows“ sind mehrere Gesangsparts am Start: Tom Englund (Evergrey, Redemption), Mike Mills (Toehider), Daniel Gildenlöw (Pain Of Salvation), Hansi Kürsch (Blind Guardian), Brittney Slayes (Unleash The Archers), die die Gesangsrollen von Floor Jansen übernommen hat und bei der ganzen Show mit Präzision und Kraft auffällt, Jonas Renkse (Katatonia), die fantastische und ganz in Gold gekleidete Anneke Van Giersbergen (Vuur) und John “Jaycee” Cuijpers (Praying Mantis), der einen Extraapplaus von mir bekommt.

Der Start war schon mal beeindruckend, das Publikum ist sofort im optimalen Begeisterungsmodus. Doch wird dieses hohe Niveau zu halten sein? Um’s vorwegzunehmen: Solch eine perfekt inszenierte Show, bei der wirklich alles stimmt: Dramaturgie, die Bilderflut über die Screens, die Musikalität der Beteiligten, die Stimmen, die Licht- und Lasereffekte und der sensationelle Surround-Sound, der vielleicht nicht überall seine Wirkung erzielt. Ich stehe relativ weit hinten, am beeindruckendsten und effektivsten klingt das Keyboard für mich, das insbesondere bei seinen Soloeinsätzen einmal um mich herumwirbelte. Was für optische Effekte! Zu „Beneath The Waves“ senkt sich ein Lichtteppich, geknöpft aus Laserstrahlen über unsere Köpfe, bei „Newborn Race“ wirbeln DNS-Stränge in fluoreszierenden Farben auf der Bühne. Dinosaurier lugen bei „The Sixth Extinction“ durchs Lasernetz bis schwere Rauchschwaden die Metalriffs ankündigen. Als Requisiten kommen noch ein uralter PC samt Tisch zum Einsatz („Web of Lies“) und bei „The Truth is in Here“ ein altes Klinikbett, auf dem Arjen hereingeschoben wird.

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: Timo Somers FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Bei den Gitarristen präsentiert sich Marcel Coenen als Stuntgitarrist und Tappingkönig, Timo Somers dagegen hat einen Sound, der den ganzen Saal bis in die letzte Ecke ausfüllt, so breit und voluminös ist der, dass man bequem darauf skaten kann. Auffallend unter all den großartigen Stimmen ist auch Marjan Welmans, die ihrer Stimme wunderschöne, stimmungsvolle Töne auf „E=MC2“ entlockt.

Dieser Mix aus Metal, Folk, Rockoper, Medieval und Progressive-Rock mit den fantastischen Kostümen und der dramatischen Hochspannung in den Texten und im Ausdruck so mancher Vokalistin lässt schnell Assoziationen an Wagner und Beethoven aufkommen. Wenn die Sänger von allen Seiten auf die Bühne kommen, wenn es zu Duetten kommt wie bei „Comatose“ mit Anneke Van Giersbergen und Daniel Gildenlöw theatralischem Hintergrund, wo Rorschach-Figuren ineinander fallen, oder beim eher hymnischen „Waking Dreams“ mit Jonas Renkse und Anneke, dann weiß man, dass die dramatische Oper hier Modell gestanden haben muss. Und wie es sich bei einem fulminanten Schlussakt gehört, sind am Ende elf Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, unterstützt von der drei Stimmen auf der Empore. Mehr Wuchtigkeit geht nicht.

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: Marcel Coenen FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Wie Lucassen es schafft, in diesem riesigen Ensemble auch noch Geige, Cello und Flöte zu integrieren, schon beim ersten Song, wo die Geige das Thema leise vorgibt, ist großartig. „Comatose“ beginnt mit kräftigen Drums und einem Cello und endet mit der Querflöte und der Geige, die das Thema etwas folkmäßig ausklingen lassen und den donnernden Tribaldrums übergeben. Dennoch gibt es genügend Raum für Headbanger-Metal, Prog-Rock und Raum für Gitarrenhelden, so wie nach dem Motorengeheul bei „Connect The Dots“, bei dem die Background-Vocals übrigens stark an die auf Frank Zappas „Over-Nite Sensation“ – schrill, schnell und scharf.

Zur Zugabe gibt es noch „This Human Equation“ mit Simone Simons von Epica als Hauptstimme, „Fate of Man“, bei dem Brittney Slayes im Rampenlicht steht und das 13 Minuten lange „The Day That the World Breaks Down“.

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: Jonas Renkse FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Lineup Ayreon Live

Sänger*innen:

Tom Englund (Evergrey, Redemption) – Forever
Daniel Gildenlöw (Pain Of Salvation) – Forever
Hansi Kürsch (Blind Guardian) – Forever
Jonas Renkse (Katatonia) – Forever
Anneke Van Giersbergen (Vuur) – Forever
Simone Simons (Epica) – Simone
Wudstik – Scientist
Marjan Welman – Scientist
Liselotte Hegt (Dial) – Nurse
Maggy Luyten (Nightmare) – Forever
Phideaux Xavier – Px
Arjen Lucassen (Ayreon, Star One, Etc.) – Mr. L, Average Middle-Class Worker
Damian Wilson – Forever (für Jorn Lande)
Brittney Slayes (Unleash The Archers) – Forever (für Floor Jansen)
Mike Mills (Toehider) – Forever (für Steve Lee)
John “Jaycee” Cuijpers (Praying Mantis) – Forever (für Bob Catley)

Band:

Marcella Bovio – choir
Irene Jansen – choir
Jan Willem Ketelaers – choir
Joost van den Broek – keys
Ed Warby – drums
Marcel Coenen – guitar
Timo Somers – guitar
Johan van Stratum – bass
Jeroen Goossens – flute
Ben Mathot – violin
Jurriaan Westerveld – cello

Ayreon im 013 Poppodium, Tilburg: John Jaycee Cuijpers FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Setlist Ayreon 01011001, Tilburg 2023 :

March of the Machines
Age of Shadows
Comatose
Liquid Eternity
Connect the Dots
Beneath the Waves
Newborn Race
Ride the Comet
Web of Lies
The Fifth Extinction
Waking Dreams
The Truth Is in Here
Unnatural Selection
River of Time
E=mc²
The Sixth Extinction

Encore:

This Human Equation
Fate of Man ( Song von Star One)
The Day That the World Breaks Down