Review: Alles über die Neuveröffentlichung von Miles Davis „Miles ’54: The Prestige Recordings“ – Geschichte eines besonderen Jazzjahres

Miles Davis und das Jahr 1954: Wendepunkt eines Genies und Revolution des Jazz

Von Dylan Akalin

Das Jahr 1954 war ein Meilenstein in der Karriere von Miles Davis – eine Phase der Transformation, des künstlerischen Durchbruchs und des persönlichen Triumphs. Davis, der sich zuvor in einer Krise befand, fand in diesen zwölf Monaten zu einer neuen, unverwechselbaren musikalischen Sprache. Mit den Aufnahmesessions für das Label Prestige schuf er nicht nur zeitlose Werke, sondern veränderte den Jazz grundlegend. Diese Sessions wurden zum Fundament seiner späteren bahnbrechenden Karriere und zur Blaupause für eine neue Ära des Jazz: den Hard Bop. Craft Recordings erinnert mit „Miles ’54: The Prestige Recordings“ an diese besondere Phase. An diesem Freitag erscheint es als 2CD-Set, 4LP-Version und in digitalen Formaten. Wir besprechen die CD-Ausgabe.

Ein Jahrzehnt der Vorbereitung: Der Weg zu Prestige

Bevor Davis 1954 zu seiner kreativen Hochform auflief, hatte er bereits eine beeindruckende, wenn auch turbulente Karriere hinter sich. Nach seinem Umzug nach New York im Jahr 1944 und der Zusammenarbeit mit Größen wie Charlie Parker prägte er die Bebop-Ära entscheidend mit. Doch trotz seiner frühen Erfolge kämpfte Davis mit inneren und äußeren Herausforderungen. Der Druck des Musikgeschäfts, seine Heroinsucht und eine künstlerische Orientierungslosigkeit drohten, seinen Aufstieg zu beenden.

Die Zusammenarbeit mit Prestige Records, die 1953 begann und sich über mehrere Jahre erstreckte, war eine zentrale Grundlage für seine kreative Wiedergeburt. Das Label bot Davis nicht nur eine Plattform, um seine musikalischen Visionen zu realisieren, sondern auch eine Umgebung, in der er mit talentierten Musikern experimentieren konnte. Prestige wurde zum Schauplatz einer Serie legendärer Sessions, die den Jazz neu definierten und Davis’ Platz als innovativer Kopf des Genres festigten.

Revolution im Studio: Die Prestige-Sessions von 1954

Die Prestige-Sessions von 1954 zählen zu den wichtigsten Aufnahmen in der Geschichte des modernen Jazz. Diese Studioarbeit erlaubte Davis, eine klare musikalische Identität zu entwickeln und gleichzeitig die Grenzen der damaligen Jazzkonventionen zu erweitern. Mit einer Vielzahl von hochkarätigen Musikern und dem visionären Tontechniker Rudy Van Gelder entstanden Aufnahmen, die sowohl klanglich als auch kompositorisch neue Maßstäbe setzten.

1. März 1954: Die Geburt von „Four“

Die Prestige-Session vom 15. März, begleitet von Art Blakey, Percy Heath und Horace Silver, brachte eine der bekanntesten Kompositionen von Miles Davis hervor: „Four“. Dieses Stück zeigt, wie Davis den Bebop mit einer klareren, zugänglicheren Melodik verband. Die rhythmische Leichtigkeit und der harmonische Groove der Session verkörpern die Essenz des aufkommenden Hard Bop. Das Ensemble schuf eine intime, aber dennoch dynamische Atmosphäre, in der Davis’ Spiel einen emotionalen und narrativen Fokus erhielt.

29. April 1954: Gipfeltreffen der Jazz-Elite

Eine weitere legendäre Prestige-Session fand am 29. April statt, bei der Davis mit einer All-Star-Besetzung, darunter J.J. Johnson und Lucky Thompson, im Studio war. Stücke wie „Blue ’n’ Boogie“ verdeutlichen die Offenheit und Energie der damaligen Jazz-Szene. Davis’ Ansatz, den Musikern Raum für Improvisation zu geben, war bahnbrechend und beeinflusste die gesamte Studioarbeit des modernen Jazz. Rudy Van Gelder, dessen präzise Tontechnik diese Aufnahme verewigte, trug entscheidend dazu bei, den Klang des Hard Bop zu definieren.

Juni 1954: „Walkin’“ und die Revolution des Jazz

Die Session, die das ikonische Stück „Walkin’“ hervorbrachte, markierte einen Wendepunkt. Mit einer entspannten, bluesigen Intensität legte Davis den Grundstein für den Hard Bop. Dieses Stück vereinte die technische Raffinesse des Bebop mit einer erdigen, emotional zugänglichen Klangsprache. Es zeigte, wie Davis eine Balance zwischen intellektueller Tiefe und publikumsnaher Eingängigkeit fand. Die Mitwirkung von Sonny Rollins, einer weiteren Legende des Jazz, machte diese Session zu einem historischen Ereignis.

24. Dezember 1954: Ein krönender Abschluss mit Thelonious Monk

Das Jahr endete mit einer herausragenden Session, bei der Miles Davis, Thelonious Monk und Milt Jackson aufeinandertrafen. Trotz der unterschiedlichen musikalischen Philosophien von Davis und Monk gelang es der Gruppe, eine außergewöhnliche Synergie zu schaffen. Besonders Davis’ Solo auf „Bag’s Groove“ wurde später zu einem der am häufigsten analysierten und bewunderten Momente des modernen Jazz. Diese Session zeigte nicht nur Davis’ Fähigkeit, sich mit anderen großen Künstlern zu verbinden, sondern auch seine wachsende Rolle als Visionär, der musikalische Vielfalt und Innovation förderte.

Die Bedeutung der Prestige-Sessions: Mehr als nur Musik

Die Prestige-Aufnahmen von 1954 waren nicht nur musikalische Meilensteine, sondern auch kulturelle Statements. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, geprägt von der Bürgerrechtsbewegung und wachsender kultureller Emanzipation, repräsentierte Miles Davis die aufstrebende Kraft einer neuen Generation schwarzer Künstler. Seine Musik spiegelte den Zeitgeist wider: die Sehnsucht nach individueller Freiheit, die Überwindung von Barrieren und die Suche nach einem authentischen Ausdruck.

Rudy Van Gelders Studioarbeit verlieh diesen Sessions eine klangliche Tiefe, die den Hörer unmittelbar in die musikalische Welt von Davis eintauchen ließ. Die präzise Mikrofonierung und die akustische Reinheit machten die Prestige-Aufnahmen zu zeitlosen Kunstwerken, die den Jazz auf eine neue technische Ebene hoben.

Ein persönlicher Triumph: Davis’ Wiedergeburt

Neben seinen musikalischen Leistungen war 1954 auch ein Jahr des persönlichen Triumphs für Davis. Der Kampf gegen seine Heroinsucht verlangte ihm alles ab, doch er ging gestärkt daraus hervor. Diese neu gewonnene Energie fand Ausdruck in seiner Musik, die eine ungekannte emotionale Tiefe erreichte. „Ich wusste, dass ich die Musik hatte, aber ich wusste jetzt auch, dass ich das Leben hatte,“ reflektierte Davis später.

Newport und der Sprung zu Columbia Records

Der Höhepunkt von Davis’ Wiedergeburt war sein gefeierter Auftritt beim Newport Jazz Festival. Sein eindringliches Solo auf „Round Midnight“ bewegte das Publikum zutiefst und erregte die Aufmerksamkeit der Musikindustrie. Dieser Erfolg ebnete den Weg für einen Vertrag mit Columbia Records, der Davis in den folgenden Jahren zu globalem Ruhm verhelfen sollte. Newport war mehr als ein Comeback – es war der Beginn einer neuen Ära.

1954 – Das Jahr, das den Jazz veränderte

1954 war das Jahr, in dem Miles Davis sich neu erfand – als Künstler, als Mensch und als Innovator. Die Prestige-Sessions dokumentieren eine Phase der musikalischen und persönlichen Transformation, die weit über die Grenzen des Jazz hinausreichte. Mit Meisterwerken wie „Walkin’“ und „Bag’s Groove“ definierte er nicht nur seinen eigenen Stil neu, sondern legte auch den Grundstein für die großen Alben, die in den späten 1950er Jahren folgen sollten.

Dieses Jahr war ein Wendepunkt, an dem sich die Vergangenheit und die Zukunft des Jazz kreuzten. Davis selbst beschrieb diesen Moment so: „Plötzlich wollten alle etwas Cooles, Sauberes und wirklich Scharfes. Ich glaube, ich habe das auf den Punkt gebracht.“ Und das hat er – auf eine Weise, die die Geschichte der Musik für immer veränderte.

Jazzfans haben sicherlich die Originalaufnahmen. Was bringt also die Neuveröffentlichung? Erst einmal sind die Aufnahmen remastered, was ein fantastisches Sounderlebnis bringt. Die auf der Doppel-CD präsentierten Aufnahmen sind mehrfach in unterschiedlichen Formaten und Zusammenstellungen veröffentlicht worden:

1. Die Prestige-Aufnahmen (1954)

Viele dieser Tracks wurden für Prestige Records aufgenommen und tauchten auf verschiedenen Alben auf:

• „Walkin’“: Dieser Titel wurde erstmals auf dem Album Walkin’ (1954) veröffentlicht. Es war ein Meilenstein in der Entwicklung des Hard Bop.

• „Blue ’n’ Boogie“: Ebenfalls auf Walkin’ enthalten.

• „Solar“: Erschien auf dem Album Blue Haze (1954), einer Compilation von Prestige-Aufnahmen aus mehreren Sessions.

• „Four“ und „Oleo“: Diese beiden Klassiker wurden Teil des Albums Bags’ Groove (1957), das eine Sammlung von Prestige-Aufnahmen ist.

2. Die Sessions mit Milt Jackson („Bags’ Groove“)

• Die Aufnahmen von „Bags’ Groove“ (Take 1 & Take 2) entstanden bei der legendären Christmas Eve Session am 24. Dezember 1954 mit Milt Jackson (Vibraphon). Beide Takes erschienen erstmals auf dem Album Bags’ Groove (Prestige, 1957).

3. Standards wie „The Man I Love“

• Die beiden Takes von „The Man I Love“ wurden ebenfalls bei der Christmas Eve Session aufgenommen und erschienen später auf Miles Davis and the Modern Jazz Giants (1959), einer weiteren Prestige-Compilation.

4. „But Not for Me“, „Doxy“, „Airegin“

• Diese Stücke stammen aus Sessions mit Sonny Rollins, die 1954 stattfanden, und erschienen ebenfalls auf Bags’ Groove oder anderen Prestige-Alben.

5. Veröffentlichungen auf Box-Sets

• In späteren Jahren wurden diese Aufnahmen mehrfach in größeren Zusammenstellungen veröffentlicht, wie z. B. in:

• The Miles Davis Quintet – The Legendary Prestige Quintet Sessions (2006).

• The Complete Prestige Recordings (1991): Eine umfassende Box mit allen Aufnahmen, die Miles Davis für Prestige gemacht hat.

Die Titel stammen aus Sessions, die ursprünglich als Einzelalben oder Compilations veröffentlicht wurden, aber im Laufe der Zeit auf vielen Neuauflagen, Compilations und Box-Sets wiederveröffentlicht wurden. Besonders die Prestige-Aufnahmen von 1954 gelten als unverzichtbar in der Geschichte des Jazz und dokumentieren Miles Davis’ Entwicklung hin zu einem führenden Innovator des Genres.