Das niederländische Landgraaf ist nicht mal eine Autostunde von Bonn entfernt, und dennoch spielt Pinkpop, das älteste ohne Pause stattfindende Open-Air-Festival der Welt im Rheinland keine Rolle. Aachen liegt nicht mal 20 Kilometer weiter, doch Deutsche sieht man auf diesem wunderschönen, sehr liebevoll organisaierten Festival sehr wenige. In den Niederlanden ist Pinkpop eine Institution, und die Geschichte dieses 46-jährigen Festivals zeigen die Macher immer gerne an Hand der alten Plakate, auf denen man auch alte holländische Bands wie Golden Earring, Focus oder Brainbox wiederentdeckt. Wären sicher auch mal wieder Kandidaten für die nächsten Festivals!
Von Cem Akalin
Wie auch immer: Veranstalter Jan Smeets setzt immer mehr auf Kontraste. Vielleicht sucht er ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Das gelingt ihm jedenfalls, wenn er an einem Festivaltag Sir Paul McCartney und die Metalband Bring Me The Horizon auftreten lässt. Oder am Freitag die Red Hot Chili Peppers, den britischen Singer/Songwriter James Blake, die Indie-Rockbands Bastille und One OK Rock aus Japan. Aber genau diese Kombinationen sind es ja, was das Festival so einzigartig macht. Samstagnacht sorgen Rammstein für feuerspuckende Rockhärte, Ex-Tool-Frontmann Maynard James Keenan präsentierte mit seiner Band Puscifer seine experimentelle Elektroseite und die niederländische Reggae-Kultcombo Doe Moor sorgte für ausgelassene Stimmung
Am Sonntag, dem letzten der drei Festivaltage, standen jedenfalls trotz durchwachsenen Wetters mehr als 70.000 Fans vor der Hauptbühne, um den Ex-Beatle zu erleben. Mit dem Beatle-Song „A Hard Day’s Night“ fing Paul McCartneys Show zwar zunächst vielversprechend an. Und auch bei „Can’t Buy Me Love“ ging die Stimmung der 71.000 Fans deutlich hoch. Natürlich kommt auch der aktuelle Hit „FourFiveSeconds“, den er mit Rihanna und Kanye West aufgenommen hat. Die Wings-Songs „Letting Go“ und “Let Me Roll It” plätscherten dann doch dahin, wie der Regen den ganzen Tag. Nein, diese belanglosen Songs aus der Wings-Ära, die reißen heute nicht mal die hartgesottenen Fans aus den Socken.
Und von denen gab es jede Menge auf dem Platz. Väter mit Söhnen, Mütter mit Töchtern, Familien, Gruppen, die sich Perücken trugen, die an die Zeit der Beatles als „Pilzköpfe“ erinnerten. Keine Frage. Es war ein Treffen der Generationen, und viele waren gekommen, um einen Musiker zu sehen, der Rockgeschichte geschrieben hat. Songs wie „Back in the U.S.S.R.“, „Love me Do“ oder „Lady Madonna“ sind längst dermaßen im Hirn eingebrannt, dass sie schon fast Volksliedcharakter haben. Sir Paul vermeidet das aber auf sehr angenehme Weise. Die Songs kommen durch seine exzellente Band sehr kraftvoll rüber, und der 73-jährige Linkshänder, der zunächst gleich mit seinem berühmten Höfner-Bass auf die Bühne kommt, spielt zwischendurch sogar man das eine oder andere Solo auf der E-Gitarre.
„ Can’t Buy Me Love” schwirrt einem dann auch zwei Tage nach dem Konzert durch den Kopf. Und „Let It Be” sowieso. Ja, die Stimme ist irgendwie glasiger geworden, die Ausstrahlung hat Paul McCartney dennoch allemal, um 71.000 Fans bei Regen auf dem Platz zu halten. Wenn es ein Highlight an diesem Abend gab, dann war es für mich „Let It Be“, auf dem sich der Liverpooler selbst am Klavier begleitete. Insgesamt zeigt sich Paul McCartney aber nicht besonders spielfreudig und lässt dadurch auch keine große Nähe zum Publikum aufkommen. Nur wenn er das eine oder andere Lied einem seiner verstorbenen Freunde oder Ex-Frau widmete, da konnte man erahnen, dass da noch ein Flämmchen in seiner Brust brennt. „My Valentine“ spielt er doch recht schmachtend, immerhin, so sagt er, sei er seiner derzeitigen Frau Nancy Shevell gewidmet, die angeblich im Publikum stehe.
Dagegen überraschte davor Lionel Richie, sonst als Schmusesänger eher belächelt, mit einem doch sehr ordentlichen Auftritt. Mit einer Spitzenband und vollem Einsatz bringt der 66-Jährige richtig gute Partystimmung auf den Platz. Und Humor hat er auch noch: Einem Fan in Richie-Perücke winkt er zu und meint, das sei vielleicht doch der richtige Lionel da in der ersten Reihe, und auch das hochgehaltene Plakat mit der Aufschrift „Please marry my Mom“ quittiert er mit amüsiertem Winken. Ganz hervorragend: die Commodores-Hits „Easy“, „Brick House“, das er mit „Fire“ kombiniert, und „Lady (You Bring Me Up)“. Bei „Endless Love“, dem Duett, das er einst mit Diana Ross aufgenommen hatte, übernimmt das Publikum stimmsicher und problemlos den weiblichen Gesangspart. „Hello“ darf natürlich auch nicht fehlen, und zum Schluss verabschiedet er sich mit dem Hit „All Night Long (All Night)“.
Viel weniger Publikum hatten zwar nebenan auf der „Stage 4“ die schwedische Retro-Hard-/Psychedelic-Rock-Band Graveyard, doch die Band spielte sich so richtig die Seele aus dem Leib – manchmal vielleicht etwas zu laut. Aber Frontmann Joakim Nilsson (Gitarre und Gesang) schien eh so in seiner Welt zu leben, dass er kaum was mitbekam. Ihre Musik hört sich an, als hätte man Led Zeppelin, Bob Dylan und die Rolling Stones durch einen nuklearen
Kraftakt zu einem neuen Diamanten gepresst.
Glänzend auch die 90er-Jahre-Alternative-Rock-Abräumer Skunk Anansie. Sängerin Skin hat von ihrer Kraft und ihrer ungemein beeindruckenden Bühnenpräsenz wirklich nichts verloren. Einen Song widmete die Sängerin den Opfern des Amoklaufs in Orlando.
Aber der eigentliche Höhepunkt der dritten Festivaltages war für mich die britische Metalband aus Sheffield, Yorkshire Bring Me The Horizon, die mit ihrem aktuellen Album „That’s The Spirit“ ihr bislang erfolgreichstes Werk veröffentlicht haben. Irgendwo zwischen den frühen brachialgewaltigen Filter und Linkin Park bewegt sich die Band, die zwischendurch immer wieder ihren früheren wuchtigen Metalcore spüren lassen.
Mit „Happy Song“ und „Go To Hell For Heavens Sake“ ging es gleich von Null auf Hundert – auch das Publikum, das fast lauter war, als später bei Paul McCartney. Textsicher übernahmen die Fans mehrmals Passagen der Songs. Oliver Sykes, künstlerisch tätowiert bis in die Fingerspitzen und wild und geheimnisvoll wie ein moderner Queequeg aus einem Herman-Melville-Roman, genoss die begeisterte Meute sichtlich, forderte sie mehrmals auf eine Wall of Death zu bilden. Als die Melodie aus dem Spiel „Metal Gear Solid“ aus dem Off erklang, da wussten die Fans: Jetzt kommt „Shadow Moses“. Zu fetten Gitarrenriffs singt Sykes das Lied über das Gefühl, sich lebend schon tot zu fühlen: „We live our lives like we’re ready to die“.
Oliver Sykes bekennt sich zur Depression, hat ihr jede Menge Songs gewidmet und sieht darin eine Möglichkeit, etwas Gutes für sich herauszuholen. Er ist eine Art musikalischer Guru, verteufelt Religionen und beschwört in seinen Songs immer wieder, an sich zu glauben. Sicher steht auch die Message für viele jungen Leute im Vordergrund, aber es ist selbstredend auch der gutaussehende, wilde Kerl, der sich die Seele aus dem Leib brüllt. Immer auf der Überholspur. Das mögen die Fans. Kompromisse werden höchstens in der Melodiösität seines Brachialrocks gemacht. Ist aber auch gut so. Von den Jungs aus Sheffield wird noch mehr zu hören sein.