Pearl Jam „Gigaton“: Rockmusik mit Botschaft

Pearl Jam FOTO: Universal Music

Sechseinhalb Jahre haben wir auf das neue Album von Pearl Jam gewartet. Gigaton vereint zwölf Songs, die für die Band aus Seattle ein Experiment bedeuten, aber gut durchdacht und impulsiv sind. Die Botschaften und die Fähigkeiten als musikalische Geschichtenerzähler sind wieder so stark wie noch bei der Gründung der Band im Jahr 1990. Und dieses Album ist ein Statement für jedes Mitglied der Gruppe. Pearl Jam zeigt deutlich den starken Willen, intelligente Musik mit Intensität und vor allem Integrität zu schreiben.

Von Dylan Cem Akalin

Was hatte ich noch im Sommer vor zwei Jahren geschrieben? „Die Band wird sicherlich weniger von Wut und Übermut getrieben.“ Widerruf! Mehr Wildheit als auf „Quick Escape“ geht kaum noch. Eine Anklage auf Trump mit den poetischen Finessen eines Bob Dylan – Bezüge auf Queen und Jack Kerouac inklusive und ein Lied über die Menschheit, die vor einer solchen Katastrophe steht, dass die Flucht auf einen anderen Planeten der einzige Ausweg scheint. Aktueller geht`s nicht. Und das mit einer sägenden, aufpeitschenden Gitarre, die einem die Adern aufschlitzt. Auf diesem Stück passiert eine Menge Pearl Jam: ein starker, ruhmvoller Refrain, Gitarren, die nach Beachtung und Drama schreien und dennoch die Authentizität des Rock hochhalten.

Eddie Vedder wird immer besser. Und in den Jahren seit dem letzten Album ist in der amerikanischen Politik einfach zu viel passiert, als dass es eine so engagierte Band wie Pearl Jam, die sich in ihrer Bandgeschichte schon mit der Musikindustrie und den großen Konzertveranstaltern angelegt hat, ignorieren könnte. Der Text von „Seven O’Clock“ dreht sich jedenfalls um die vielen Missgeschicke des US-Präsidenten und seine Fehlentscheidungen in der Klimapolitik, doch Vedder tut das so subtil und poetisch zur wunderschönen Musik von Bassist Jeff Ament, wie man es von intelligenten Künstlern erwarten darf. Der langsame Groove hat einen leichten Country-Unterton in seinem Feeling und einen herzerwärmenden Ton.

Unerwartet überraschende Momente

Und so geht es nicht immer eindeutig zu in Vedders Texten. In „Never Destination“ heißt es zum Beispiel „Some resolution, some justice tied/To this collusion hiding in plain sight/Say see ya later, never say goodbye/This is a little trick I play on my own mindI am a recluse in search of new friends/Are they gonna find me back where the road ends?/Off in the distance, leviathans…“ Die Angst als Mittel der politischen Herrschaft und der Einsiedler, der an seinem Glauben, seiner Unschuld und der Freiheit festhält.

Mit welchen Mitteln arbeitet Pearl Jam heute? 29 Jahre nach ihrem 16 Millionenfach verkauften Debütalbum Ten? Der Opener „Who Ever Said“ ist ein Pearl Jam-Rocker, dessen Refrain ein Plädoyer ist, uns selbst zu überprüfen und nicht aufzugeben. Er hat Schattierungen der 80er-Jahre-Electronica mit Beat- und Keyboard-Linien, aber man kann sich dem Charme einfach nicht entziehen.

 „Take the Long Way“ klingt nach gutem rockigen Handwerk, „Comes Then Goes“ ist eine für Pearl Jam typisch spröde Akustikballade, die im Chorus entfernt an Creedence Clearwater Revival erinnert. Aber meistens klingt Gigaton ziemlich frisch, energievoll und verblüfft die Zuhörer sogar mit unerwartet überraschenden Momenten.

Neues Gefühl der Kraft

Gut möglich, dass gerade die Trump’sche Unverfrorenheit Pearl Jam’s Musik ein neues Gefühl der Kraft verliehen hat. Der Ausbruch von schrägen Gitarren auf Shredding-Niveau auf „Superblood Wolfmoon“ wäre zu Grunge-Zeiten ein No-Go gewesen, weil der Grunge genau diese Form des ultraschnellen Gitarrensolos der 80er Jahre total ablehnte. Aber auf diesem Stück kommt mit einer solchen unwiderstehlichen Kraft auf den Zuhörer zugerast, dass man sich ihm lustvoll hingibt.

Beim Harmonium auf „River Cross“ muss ich sofort an Neil Youngs Unplugged-Album und „Hurricane“-Version denken. Und zu Neil Young pflegt die Band bekanntlich ja eine besondere Nähe und Freundschaft. Diese keuchende, hymnische Qualität des Songs lässt Eddie Vedders leidenschaftliche Stimme perfekt zur Geltung kommen (und könnte demnächst von Neil gecovert werden). Interpunktiert von Bass und donnernden Trommeln wird die Spannung vor sich hergetrieben wie eine Welle kurz vor dem Brechen. Der Trost und der Optimismus bleiben vorsichtig: „These days will end as do the light’s rays.“ Es schwingt mehr Wunsch als Zuversicht in dem Song: „Let it be a lie that all futures die/While the government thrives on discontent.“

Eckige Post-Punk-Gitarren

Bei „Dance of the Clairvoyants“ hören wir nochmal die eckigen Post-Punk-Gitarren, „Never Destination“ vereint Leidenschaft mit punkigem Allerlei, und „Buckle Up“ ist eine ansprechend warme Nummer über ungewisse Zukunftsaussichten mit der fast witzigen Botschaft: „Tu nichts, und schnall dich an.”

Dass es dann an der einen oder anderen Stelle zum Einsatz von Elektronik kommt, mag bei einer Band wie Pearl Jam irritieren. Aber was soll`s? Immerhin führt uns ein Elektrokardiogramm wie die Aufzeichnung der Lebensaktivitäten des Planeten durchs wunderschön gestaltete Beiheft voller großartiger Fotografien von Paul Nicklen in der Vinyl-Version, und das Cover zeigt das Beeindruckende Bild eines kollabierenden polaren Schelfeises. Mehr Message geht ja wohl nicht.