Tag eins beim Night Of The Prog Festival 2019 im Loreley Amphitheater. Das Festival mit dem atemberaubenden Blick auf die Bögen des Rheins durchs hügelige Tal ist etwas ganz Besonderes. Die Atmosphäre: sehr relaxt. Die Musik: Progressive Rock. Tangerine Dream schaffen zu später (und dunkler) Stunde sagenhafte visuelle Lichteffekte zu ihrer elektronischen Kunstmusik. Chandelier sorgt für einen historisch bedeutsamen Auftritt, IQ entflammt mit akkuratem Sound die Herzen der Fans. Die Überraschung des Tages indes ist die ungarische Band Special Providence.
Von Dylan Cem Akalin
Im oberen Teil des Amphitheaters haben es sich jene mit Liegen, Klappstühlen und Decken gemütlich gemacht, die dem Musikgeschehen auf der Bühne unten lieber ganz entspannt folgen wollen. Das gibt dem Festival so einen familiären Picknickcharakter. Überhaupt geht es sehr heimisch zu. Rainer aus Achternach kommt seit den Anfangstagen des Festivals und kennt mindestens 150 Fans auf dem Gelände. Das Publikum ist überwiegend im Ü50-Alter. Auch wenn sich auch jüngeres Publikum unter den rund 2500 Zuschauern befindet, merkwürdig ist es schon, dass progressiver Rock so wenig junge Menschen anzuziehen scheint.
Dafür kommt die Schar der Rockfans aus praktisch der ganzen Republik, wie ein Blick auf die Autokennzeichen verrät, aber auch aus Frankreich, England, Belgien, Holland und der Schweiz sind Fans zu dem legendären Festival angereist. Und aus dem kanadischen Ottawa: Die Gruppe kam eigens, um die legendäre deutsche Formation Chandelier zu sehen. Die Kultband löste sich 1997 auf, doch Festivalmacher Win Völklein ist es gelungen, die Originalband für einen einzigen Auftritt für die Loreley zu gewinnen.
Der Geist von Genesis
Der Geist der frühen Prog/Artrocker Genesis schwebt an diesem Tag ja eh über fast allen Bands wie eine Standarte. Und dass Chandelier stark von den britischen Prog-Pionieren geprägt wurde, daraus macht die Band keinen Hehl. Mitten in „A Glimpse Of Jericha“ erklingt gar der Instrumentalteil aus dem Genesis-Song „Firth Of Fifth“ – und zum Intro ihres fast anderthalbstündigen Auftritts kommen aus dem Off die Zeilen aus „The Lamia“:
„The scent grows
richer, he knows he must be near,
He finds a long passageway lit by chandelier, chandelier, chandelier…“
Das Thema von „Start It“ klingt, als hätte Genesis bei ihrer 2007er Tour Zappas „Peaches en Regalia“ gespielt. Die staccatohaften Riffs hinter dem Gesang, der fette Bass indes sind so sehr frühe Genesis. Das verstärkt sich bei „Timecode“ sogar noch mehr. Sehr geil, der gitarrenbetonte, melodische Abgang. Martin Eden singt, als wäre die Band nicht 22 Jahre in der Versenkung verschwunden, Udo Lang ist ein Steve Hackett orientierter versierter Gitarrist, Christoph Tiber schafft nicht nur bei „Wash & Go“ eine atmosphärische Dichte, wie wir sie von „The Lamb Lies Down On Broadway“ kennen.
Magischer Auftritt von Toni Moff Mollo
„Call For Life“ wiederum erinnert sehr an Marillion, sogar Edens Gesang könnte stellenweise von Fish sein. Das gilt auch für „Stay“, wobei die Gitarre nach der „And Then We Were Three“-Periode von Genesis klingt. Und bei „Half Empty, Half Fool“ lässt „Supper’s Ready“ schön grüßen.
Magischer Moment: der Auftritt von Grobschnitt-Sänger Rainer Loskand alias Toni Moff Mollo bei „All My Ways“. Insgesamt ein toller, sicherlich auch unvergesslicher Auftritt. Eden verspricht, in 20 Jahren wieder mit Chandelier aufzutreten. Dann bin ich dabei – mit 80.
Special Providence überraschten als zweite Band mit ihrem jazzdurchsetzten, manchmal gar metalbestimmten Instrumental-Progrock aus Ungarn. Ein Song wie „Asparagus“ dürfte durchaus als jazzbetonter Fusion durchgehen. Dann gibt es wieder Stücke, die sehr an King Crimson orientiert sind oder Dream Theater-Anklänge aufweisen. Gitarrist Márton Kertész hat einen Sound, von dem man gar nicht genug kriegen kann. Und er ist nicht nur virtuos, sondern auch einer, der einfallsreich Melodien schafft, die auflöst und abstrakte Strukturen beliebig verändert. Klasse. So sehr er tatsächlich einen eigenen Stil entwickelt hat, bei „Northern Lights“ pflegt er die tänzelnde Virtuosität eines Steve Vai und in den Akkordfolgen die Leichtigkeit eines John Petrucci. Sein Eintritt in den Song ist immer ein Ereignis. Keyboarder Zsolt Kaltenecker schafft Verdichtungen durch Blockakkorde am E-Piano und offenen Klangfarben.
Beeindruckender Gitarrist: Márton Kertész
Attila Fehervari hat am Bass sowohl die massiven Einsätze als auch die filigranen drauf: Bei seinem Solo spielt er eine Sequenz, die sich so verblüffend am Flamenco entlangzieht während er kunstvoll blitzschnelle Flageoletttöne zaubert. „Lazy Boy“ wiederum startet wie ein Genesis-Werk aus den 80ern mit verzerrtem Keyboardsound und endet nach einer Reihe von Stimmungswechseln wie „Jump“ von Van Halen. Klasse Auftritt.
IQ hat einen schwierigen Start, zumindest Sänger Peter Nicholls, der sich offenbar nicht selbst hört, immer wieder Zeichen zu den Technikern gibt und hinter der Bühne verschwindet. Da klingt deshalb auch manche Zeile von „State Of Mine“ ein wenig schief. Dafür hält der Rest der Band aber kraftvoll dagegen. Bassist Tim Esau wird übrigens wegen eines Krankenhausaufenthalts von John Jowitt (und bei einigen Songs vom Band) vertreten. Keine schlechte Wahl. Der Mann ist nicht nur am Bass eine echte Bereicherung, sondern auch als Unterhalter.
Schwieriger Start von IQ
Auch bei „Breathtaker“ scheint der Sänger noch nicht ganz bei der Sache zu sein., was sich dann aber ab dem dritten Stück drastisch ändert. „From the Outside In“ gefällt mir vor allem wegen des etwas anderen Aufbaus und der ungewöhnlichen Gitarrenarbeit von Mike Holmes besonders gut. Holmes zeigt hier seine etwas „frickelige“ Seite. Könnte er für meinen Geschmack mehr herausstellen.
„The Seventh House“ mit den dokumentarischen Ausnahmen aus der Zeit der Ersten Weltkriegs auf der Leinwand, die man leider aufgrund der noch frühen Stunde zu schwach sah, beginnt mit der Glockenspielhellen Gitarre und dem Peter Gabriel-mäßigen Gesang. Auch hier wieder: „Supper’s Ready“ von Genesis stand sicherlich Pate. Die epische Gitarre ist der absolute Höhepunkt – so wie auch beim fulminanten Schluss von „The Last Human Gateway“.
Wir hören mit „For Another Lifetime“ ein Stück aus dem im September erscheinenden neuen IQ-Albums – mit Harmonika-Sounds und satten Bässen zu Beginn und einem balladesken Schluss. Zur Zugabe des zweistündigen Auftritts gibt es „Frequency“ mit King-Crimson-Verbeugung im Intro und einer sehr Robert-Fripp’ishen Gitarre und vielen Yes-Momenten.
Die Erben der Edgar Froese
Den Abschluss des ersten Festivaltags macht Tangerine Dream. Bei ihrer Show ohne Gründungsmitglied Edgar Froese (Interview mit Froese) belebten die Synthesizer-Pioniere ihr progressives Ambiente mit Techno, schufen aber immer noch die gleiche kosmische Größe. Band-Gründer Edgar Froese starb 2015 und trotz der Bedenken seines Sohnes Jerome hat es Tangerine Dream gewagt, die organische, Klangstruktur ihres Überherrn als Vehikel für ein autobiografisches Ego fortzuführen.
Das jüngste Album bewahrt ja Froeses Geist, indem es anhand von Skizzen und Ideen entstand, die er hinterlassen hat. Und Bandleader Thorsten Quaeschning ist Froeses „ausgewählter Nachfolger“. Tangerine Dream tritt an diesem Abend als Trio auf – mit Ulrich Schnauss an Computern und Sythesizern und Geigerin Hoshiko Yamane, deren mäandernde Beiträge indes kaum wahrnehmbar sind. Die Truppe klingt mehr wie eine experimentelle Version von Kraftwerk. Leuchtende Quallen, explodierende Lichtkugeln, Video-Grafiken wie aus den 80er Jahren, viele bunte Lichter bestimmen visuell die Klangskulpturen.