Nicht nur für Fans ein Genuss: Marillion „With Friends At St David’s“

Marillion_in_Cardiff_Photocredit_Anne_Marie_Forker

Ein musikalischer Hochgenuss, eine Band, die in ausgezeichneter Spielfreude ist und den Zuhörern ihre Stücke mit neuen Blickwinkeln präsentiert. Wem das Album „With Friends From The Orchestra“ zu weitschweifig und zu stark aufs klassische Orchester bezogen, den wird das aktuelle Live-Album von Marillion „With Friends At St David’s“ überraschen und gefallen. Insgesamt bleiben Songauswahl und Arrangements ruhig, dennoch überwiegen rockige Nuancen, der Einsatz der klassischen Instrumente Geigen, Cello, Horn und Querflöte ergänzen die Werke ohne vom eigentlichen Grundgedanken abzulenken – und Steve Rothery spielt einige seiner besten Gitarrensoli.

Von Dylan Cem Akalin

Steve (h) Hogarth ist einfach ein fantastischer Sänger. Das beweist der Mann bei jedem Liveauftritt. Und das ist auf dieser Aufnahme nicht anders. Zudem hat Hogarth eine sozial-politische Dimension in die Textwelt der britischen Neo-Prog-Band Marillion gebracht. Und so besteht die Songauswahl für dieses Live-Konzert auch ausschließlich aus Stücken der Post-Fish-Ära. Marillion gehörte zu den ersten Bands, die sich zum Beispiel mit dem Klimawandel auseinandersetzten. Humanitäre Krisen, Fake News, der Einfluss superreicher Oligarchen auf die Gesellschaften, das alles findet sich in den Lyrics wieder. Inhaltlich ist die Band alles andere als unumstritten, aber so wie sie Themen anpackt, ist das ebenso intelligent wie poetisch beeindruckend.

Zur Vorgeschichte dieses Albums: 2017 ließ sich die Band bei Auftritten in der De Montfort Hall in Leicester bei einer Reihe von Songs vom Brüsseler Streichquartett In Praise Of Folly begleiten. Dies kam so gut an, dass sich die Band entschloss, einige Stücke mit Orchester neu arrangiert aufzunehmen- Das Ergebnis war „With Friends From The Orchestra“. Und das Album wurde so erfolgreich, dass man beschloss, mit dem elfköpfigem Line-up 2019 zu touren, unter anderem zwei Abende in der Royal Albert Hall London.

16. November 2019 in Cardiff, Wales

Die vorliegende Aufnahme entstand am 16. November 2019 in Cardiff, Wales. Die Rolle der „Friends of the Orchestra“ übernahmen wie auf dem Studioalbum das Streichquartett In Praise Of Folly mit Margaret Hermant, Maia Frankowski, Nicole Miller und Annemie Osbourne sowie der Flötistin Emma Halnan und Sam Morris am Waldhorn.

„Seasons End“ ist der Titelsong aus dem ersten Marillion-Album (1989), an dem Hogarth beteiligt war. Hogarth bewies damals gleich, dass er geradliniger und melodiöser orientiert war als Fish. Vielleicht auch etwas optimistischer in der Grundhaltung. Steve Hogarth schrieb über den Song, dass der Song „eine nostalgische Klage über kalte englische Winter und ihren Verlust durch die globale Erwärmung“ sei. Es geht darum, in welcher Verfassung wir die Welt unseren Kindern hinterlassen. Beeindruckend, wenn man bedenkt, wie wenig der Klimawandel 1989 im kollektiven Bewusstsein war. Wie die Band hier das Orchester, insbesondere das Waldhorn einsetzt ist berührend.

„Estonia“ und „The Hollow Man“

„Estonia“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie Songs entstehen können. Ihn schrieb Hogarth, nachdem er auf einer Reise zufällig den einzigen britischen Überlebenden der Passagierfähre Estland traf, die im September 1994 in der Ostsee sank. Dabei starben 852 Menschen. Eingeleitet von Streichern und Steve Rotherys eindringlicher Gitarre gesellt sich der Rest der Musiker zum langsam ansteigenden Spannungsbogen, während wir musikalisch durch die tragischen Ereignisse reisen.

Hogarth greift zu seinem Klavier, um „The Hollow Man“ einzuleiten. In dem Song geht es um seine eigene Angst vor der korrumpierenden Wirkung, wenn man ein Star ist. „Ich bin sehr selbstanalytisch und versuche oft, mein eigenes Verhalten zu untersuchen. Und ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob ich mich mag oder nicht“, sagte Hogarth mal in einem Interview.

Das epische „The New Kings“ ist aus dem Album „Fuck Everyone And Run (F.E.A.R.)“ und entstand unter dem Eindruck der Finanzkrise. Es ist eine Anklage über das Versagen der Banken und die Art und Weise, wie die CEOs für ihre Fehler auch noch belohnt wurden, erklärte der Sänger einmal. Musikalisch arbeitet die Band mit allen Elementen des Progrock, sowohl mit melancholischen als auch dramatischen Instrumentierungen. Anspielungen gibt es in dem Text aber auf russische Oligarchen, die als Milliardäre in Genf, Monaco und London leben „und unsere Fußballmannschaften aufkaufen“. Es geht dabei um die Gefahren für die Demokratien, weil der Einfluss des großen Geldes und der Konzerne auf die Regierungssysteme immer größer würden. Ganz großartig ist, wie die Band am Ende musikalisch Zuversicht verbreitet.

„Zeperated Out“ mit Zitaten von Led Zeppelin

Das alles geschieht mitunter etwas reduziert und zugegebenermaßen auch schon mal plakativ, so wie etwa in „Gaza“ der Nahostkonflikt ausschließlich aus dem Blickwinkel eines palästinensischen Kindes beschrieben wird. Das alles ist künstlerisch legitim, wird aber den mitunter komplexen systemischen Verwicklungen nicht immer gerecht. Aber man muss der Band zugutehalten, dass sie wenigstens schwierige Themen aufgreift.

Wunderschön ist die Version „Zeperated Out“ aus “Anoraknophobia (2001) mit dem markanten Streicherpassus aus Led Zeppelins „Kashmir“ und einigen Anklängen an Duran Duran. In „Ocean Cloud“ geht es um Donald Allum, den ersten und bisher einzigen Menschen, der den Atlantik in beide Richtungen ruderte. Steve Hogarth ist zurück am Klavier, und bei den hier geschaffenen Klanglandschaften zeigen sich die Stärken der gesamten Band, wobei Mark Kelly sein Keyboard über das Ganze wie einen endlosen Horizont ausschmückt, während Ian Mosley und Pete Trewavas am Bass den Rhythmus kraftvoll unterstützen und Steve Rothery vorwärtstreiben. Seine Gitarre ist einfach himmlisch. „Fantastic Place“ und „This Strange Engine“ lassen die Fans am Ende nochmal auf einer Progrock-Wolke davonschweben – mit an Pink Floyd und Genesis erinnernden Keyboards. Und „h“ gibt noch mal gesanglich alles, bis die Stimme fast versagt. Sagenhaft und wunderschön.

Dokumentation „Making Friends“

Das auf drei Vinylscheiben veröffentlichte Werk ist ein Geschenk nicht nur für Marillion-Fans. Mit der DVD und Blu-Ray kann man noch tiefer in die Welt von Marillion eintauchen: Diese zeigen die bisher unveröffentlichte Dokumentation “Making Friends”, die die Band bei den Studioarbeiten zu “With Friends From The Orchestra” begleitet.

Dieses Album soll das Warten auf das neue Studioalbum verkürzen. Der Nachfolger von “F*** Everyone And Run (F E A R)” ist in der Produktion, heißt es.

Steve Hogarth sagt selbst zur Tour und zum Album: “Das war vielleicht unsere Lieblings-Tour bisher. Sie bot uns die Gelegenheit, von Zeit zu Zeit innezuhalten und uns darin zu verlieren, wie sechs ‚klassische‘ Musiker die wundervollen Arrangements unseres Produzenten Mike zum Leben erwecken. Das hat wirklich eine andere emotionale Ebene und oft auch eine spielerische Freude an unserer Musik erzeugt.”