Schon als die ersten Töne von „Untitled Original 11383“ erklingen, geht ein Schauer über den Rücken. Dieser vertraute, etwas schräge, Saxofonsound trifft einen ohne Ansage. Baaaam! Es ist, als wenn plötzlich dein bester Freund vor der Tür steht, den du 20 Jahre nicht gesehen hast und von dem du annahmst, der sei längst tot. Und dann steht er da und fängt gleich mit dir zu reden an, als wäre nichts gewesen. So ist es mit John Coltranes „Both Directions at Once“.
Von Dylan Cem Akalin
Die neu entdeckte Session, die am 6. März 1963 von John Coltrane mit Elvin Jones (Schlagzeug), McCoy Tyner (Klavier) und Jimmy Garrison am Bass aufgenommen wurde, reiht sich ohne Umschweife in dein musikalisches Gedächtnis ein. In den Liner Notes vergleicht Sonny Rollins die Entdeckung dieser Session mit „einen neuen Raum, den man in der großen Pyramide findet“. Das stimmt. Denn es ist eine Schatzkammer, in der man nichtsahnend steht. Aber der Raum entpuppt sich als einer, der sich wenig von den umliegenden unterscheidet. Es finden sich sogar Versionen von einigen der gleichen Artefakte, darunter einschließlich vier Versuche von „Impressions“, einer von Coltranes am häufigsten aufgeführten Kompositionen. Es ist, als würde man plötzlich eine Komposition von Beethoven entdecken, die zwischen der fünften und sechsten Sinfonie gehörte!
In Bezug auf die neuen Nummern ist es schwer vorstellbar, dass die wunderschöne Melodie von Untitled Original 11386 mit Coltrane auf Sopran überhaupt anders gespielt werden könnte. Der Eröffnungstitel ist so hinreißend, dass er geradezu schreit, einen adäquaten Namen zu bekommen. Und die Band kehrt immer wieder zur Melodie zwischen den Soli zurück. Sie hat etwas Magisches, als würde sie die Musiker immer wieder verführen – wie die Sirenen.
Untitled Original 11386
11386 zeigt auch, wie selbst im Jazz hübsche Töne, schöne Melodien auch mit hohem Anspruch vereinbar sind. Klar, wir wissen, dass die Vorstellungen von Jazz gerade in Coltranes letzter Phase alles andere sein sollte als „hübsch“ oder „schön“. Und wir hören auch hier, dass sein Sopran immer wieder kurz davor ist auszubrechen.
Überraschend ist „Nature Boy“, das durch Nat King Cole berühmt wurde. Überraschend deshalb, weil Coltrane hier beweist, dass er auch in aller Kürze seinen Ausdruck findet. Er soll ja immer wieder im Clinch mit Miles Davis gestanden haben, der Coltrane wohl schon mal wegen dessen langer Soli anmachte. „Ich habe eben viel zu sagen“, soll Coltrane Miles einmal schulterzuckend gesagt haben.
Bei „Nature Boy“ sowie zwei Tracks von „Impressions“ fehlt das Spiel von Tyner. Es ist beeindruckend, wie Coltrane die tiefen Lücken mit großen Bögen aus dem Tenor überspannt.
55 Jahre war das Band verschwunden. Oder zurückgehalten. Und jetzt bekommen wir einen weiteren Einblick in Coltranes Seele. Und in das traumhafte Zusammenspiel dieser fantastischen Musiker. Coltranes Quartett scheint sofort auf den Punkt zu kommen. Jeder Einzelne scheint genau zu wissen, wohin die Reise geht, was Coltrane erwartet. Die Lunte brennt bei jedem exakt gleich. Der Prozess des Zusammenspiels gleicht dem Schwarmverhalten von Zugvögeln oder Makrelen. Es ist unglaublich, wie gut schon der erste Take der Stücke ist!
Classic Quartet
Das Album liegt in der Chronologie zwischen „Ballads“ (1962, Impulse!) und „A Love Supreme“ (1964, Impulse!). Erinnern wir uns: Im Mai 1961 wurde Coltranes Vertrag von der neu gegründeten Firma Impulse! Übernommen, was Coltrane ermöglichte, wieder mit Rudy Van Gelder zu arbeiten. Anfang 1961 wurde Bassist Steve Davis durch Reggie Workman ersetzt, während Eric Dolphy etwa zur gleichen Zeit als zweites Horn zur Gruppe stieß. Im November 1961 demonstrierte Coltrane im Village Vanguard seine neue Richtung. Seine bisherigen Experimente basierten auf indischen Ragas, den jüngsten Entwicklungen auf modalem Jazz und der aufkeimenden Free-Jazz-Bewegung. Besonders John Gilmore, ein langjähriger Saxofonist von Sun Ra, hatte es Coltrane angetan. Kritiker wie Publikum waren irritiert, in Frankreich wurde er während seiner letzten Tour mit Miles Davis gar ausgebuht. Aber Coltrane war entschlossen, jede Aufführung zu einem „Ausdruck des eigenen Wesens“ zu machen.
1962 verließ Dolphy die Band und Jimmy Garrison kam für Workman als Bassist. Von da an gab es das „Classic Quartet“, wie es mit Tyner, Garrison und Jones bekannt wurde. Sie waren Suchende, ihre Arbeit war auf spirituell Weise getrieben, den Kern ihres Ausdrucks zu ergründen.
Coltrane bewegte sich zu einem eher harmonischen statischen Stil, der es ihm ermöglichte, seine Improvisationen rhythmisch, melodisch und motivisch zu erweitern. Harmonisch komplexe Musik war zwar immer noch vorhanden, aber bei Liveauftritten war Coltrane ständig dabei, seine „Standards“ ständig zu überarbeiten: „Impressions“, „My Favorite Things“ und „I Want to Talk About You“.
„Both Directions at Once“
Was interessant ist, war, dass seine Studioplatten von damals im Widerspruch zu der Radikalität seiner Aufnahmen von 1961 im Village Vanguard standen, sie waren geradezu „konservativ“. Vielleicht war es die schlechte Kritik, die ihn dazu zwang? Jedenfalls nahm er ein Album mit Balladen auf und beteiligte an Alben mit Duke Ellington und Johnny Hartman.
Die Aufnahmen mit Hartman folgten gleich nach den Sessions zu „Both Directions at Once“. Zunächst spielten sie zwei Wochen im New Yorker Birdland, dann standen sie mit Sänger Johnny Hartman im Studio.
Es ist schon unglaublich wie kreativ er in diesen Jahren war. „A Love Supreme“ wurde Dezember 1964 aufgenommen. Sieben Monate später kam „Ascension“, ein lautstarkes Statement der Freiheit.
Ab Herbst 1965 kamen der Schlagzeuger Rashied Ali und der junge Saxophonist Pharoah Sanders dazu. Am Ende des Jahres war es mit dem Weggang von Jones und Tyner, der durch Coltranes zweiten Frau Alice ersetzt wurde, auf ein Quintett zurückgeschrumpft. Coltrane starb am 17. Juli 1967 im Alter von 40 Jahren. Ein halbes Jahrhundert später strahlt sein Wirken immer noch.