Netflix zeigt „Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese“ – und 14 CDs mit Aufnahmen von der Tour 1975
Von Dylan Cem Akalin
1975 – das war meine Zeit. Wenn wir Bob Dylan in diesen Klamotten sehen, Tücher um den Hals, weißes Second-Hand-Hemd, Weste, breitkrempiger Hut mit Federn und Blumen, wenn wir die Leute im Publikum sehen, Langhaarige, Flickenjeans, indische Hemden, dann fühlen wir die 70er unmittelbar. Ja, wir waren nicht frisiert, für die Alten wirkten wir ungepflegt, haarig, albern, unser Outfit war improvisiert und unordentlich. Es war die Zeit zwischen Disco-Ära, Vietnam, Post-Hippie und Prä-HIV. Die Zeit von Folk, Rock und Kunstperformance (Wir sehen Patti Smith bei einer Performance) Alles irgendwie analog halt. Wir liebten Klamotten, die uns nicht passten und die auf dem Flohmarkt erstanden waren, lasen Kant und Marcuse am Rande von Festivals.
Die Rolling Thunder Revue von Bob Dylan war der Ausdruck dieses Zeitgeists. Seine Tour startete in Plymouth, Massachusetts, genau dort, wo einst die Plymouth anlegte und die kolonialen Pilger ihren Fuß an die nordamerikanische Küste setzten. Dylan tourte vom Herbst bis zum Winter 1975 durch den Nordosten der Vereinigten Staaten und Kanadas: eine Art Zirkustour, die Martin Scorsese jetzt für Netflix in einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation nachgezeichnet hat. Ein großartiger Film von 2 Stunden 22 Minuten Länge.
Mysteriöse Scarlet Rivera
Der Film zeigt restauriertes Filmmaterial aus der „Rolling Thunder Revue“, als Dylan und Company, darunter der Violinist Scarlet Rivera und der Gitarrist Mick Ronson, von 1975 bis 1976 auftraten. Sein Erfolg mit der elektronisch verstärkten Band, mit der er große Stadien füllte, ließ in ihm die Sehnsucht aufkommen, kleinere Bühnen zu spielen, um dem Publikum in einem von der Watergate Affäre und dem Desaster in Vietnam zerrissenen Amerika näherzukommen.
Doch warum ist sein Gesicht mit weißer Farbe bedeckt? Sharon Stone erzählt, sie habe mit ihrer Mutter ein Dylan-Konzert besucht, als Dylan später an ihnen vorbeigekommen sei und ihr Kiss-T-Shirt bewundert habe. Also eine Hommage an Kiss? Dylan erklärt es so: „Du sagst die Wahrheit nur, wenn du eine Maske trägst.“ Als er das sagt, ist er übrigens ungeschminkt und trägt keine Maske.
„Ich kann mich an nichts von Rolling Thunder erinnern“
Ja, es ist schon witzig, wie sich Fiktion und Historie verwischen. Der Film glänzt mit frechem Humor und bietet zeitgenössische Interviews, die oft weit von dem entfernt sind, was sie zu sein scheinen. Manche Personen, die Charaktere spielen, werden auf dem Bildschirm als ihr wahres Ich und nur im Abspann als Charaktere identifiziert. Neben Interviews mit zeitgenössischen Wegbegleitern wie Joan Baez (die sich kaputtlacht) bis Sam Shepard und einigen sehr witzigen Kommentaren von Dylan selbst wird der mutmaßliche Filmemacher „Stefan van Dorp“ eingebaut, der die Liveaufnahmen angeblich gemacht hat. „Ich kann mich an nichts von Rolling Thunder erinnern“, sagt Dylan an einer Stelle. „Es ist so lange her, dass ich nicht einmal geboren war.“ Und Scarlet Rivera erzählt, dass sie Dylan kennengelernt habe, weil er sie in New York fast umgefahren hätte. Und Jim Gianopulos, der derzeitige Vorsitzende und CEO von Paramount, erzählt, wie er damals die Tour organisiert hat – angeblich als Promoter. Und dann kommt noch ein Politiker vor – Das ist Michael Murphy als Jack Tanner aus Robert Altmans Serie „Tanner ’88“.
Dass Scorsese hier mit erzählerischen Tricks arbeitet, darauf weist er schon im Vorspann hin – mit einem Clip aus Georges Melies‘ Kurzfilm „The Vanishing Lady“ von 1896, in dem ein Zauberer eine Frau unter einem magischen Tuch verschwinden lässt. „Im Leben geht es darum, sich selbst zu erschaffen“, sagt Dylan. Anders als der Dylan, der in „No Direction Home“ über seine Vergangenheit spricht, vermeidet er größtenteils den Blickkontakt mit der Kamera, während er möglicherweise einige Wahrheiten erzählt und definitiv einige Geschichten erzählt. Es ist eine weitere Manifestation seiner Selbsterfindung.
Suche nach einer Identität
Scorsese verwendet Nachrichtenmaterial aus dieser Zeit, um diese Fiktion vor dem realistischen, widersprüchlichen Hintergrund Amerikas im Jahr 1975 in Szene zu setzen. Nixon war im Jahr zuvor zurückgetreten, und das Land bereitete sich auf die Jubiläumsfeiern zur 200-jährigen Staatsgeschichte 1976 vor. Die Suche nach einer Identität passt zu Dylans Verwandlungskunst.
Sam Shepard war mitgegangen, um ein Drehbuch für Renaldo und Clara zu schreiben, den Spielfilm, den Dylan gleichzeitig drehte. „Es hatte fast das Gefühl eines Zirkus“, sagt der vor zwei Jahren verstorbene Shepard über die Tour in einem relativ jungen Interview, das hier enthalten ist. Dieser Zirkus war so abseits der ausgetretenen Pfade, dass Ginsberg in einigen der amüsantesten Szenen Gedichte liest und Dylan in einem Raum voller Frauen singt, die Mahjong spielen.
Das Besondere an dem Film ist aber das Archivmaterial der Bühnenauftritte der Rolling Thunder-Tour, die Dylan als umherziehende Bande von Troubadours konzipierte und auch lokale Musiker in die Show integrierte. Zu den Musikern gehörte neben Joan Baez, Roger McGuinn und T-Bone Burnett auch der Dichter Allen Ginsberg als tanzender Schamane (und Dylan-Jünger).
Aufnahmen von intimer Schönheit
Die Aufnahmen aus den 70er Jahren sind von intimer Schönheit. Die Kamera, so scheint es, ist immer ganz nah dran an Dylan, egal ob an seinem weißgeschminkten Gesicht auf der Bühne oder beim Fahren seines Wohnmobils hinter dem Steuer. „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ tut. Viele andere Songs waren zu dieser Zeit lyrisch und neu, darunter „Isis“, „A Simple Twist of Fate“ und „One More Cup of Coffee“. Die Violinistin Scarlet Rivera, die ihn mit diesem energiegeladenen, ungemein empathischen Spiel begleitet, ist großartig, auch ein wenig mysteriös. Und man fragt sich echt, warum man eigentlich nichts mehr von ihr hört.
Und Dylans Gesang war selten so kraftvoll, als er „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „Simple Twist of Fate“ und „Knockin ‚on Heaven’s Door“ singt. Zum Zeitpunkt der Tour arbeitete Dylan an dem Album „Desire“. „Hurricane“, das Lied über die rassistisch motivierte Verurteilung des Boxers Rubin „Hurricane“ Carter wegen mutmaßlichen Mordes bringt Dylans Feuer als Protestsänger zum Vorschein.
Am Grab von Jack Kerouac
Und dann ist ja auch noch, dass der Film das erste Interview seit zehn Jahren mit dem Nobelpreisträger enthält, in dem er über Ramblin Jack Elliott, Roger McGuinn und Joni Mitchell spricht. Scorsese verwendet nicht nur Szenen aus „Renaldo und Clara“, sondern auch aus einem Dokumentarfilm über Roma-Reisende, dem französischen Kinomeisterwerk „Children of Paradise“ und Aufnahmen von einem Besuch Dylans und Allen Ginsbergs von Jack Kerouacs Grab.
Scorsese kennt Dylan. Sein fast vierstündiger Dokumentarfilm „No Direction Home“ (2005) zeichnete die frühen Jahre des Musikers nach. Aber „Rolling Thunder Revue“ ist etwas völlig anderes. Es ist ein großer Spaß, den er sich mit der Dokumentation des Tour-Tagebuchs leistet – irgendwie faszinierend.
Und wer noch nicht genug davon bekommen hat, der kann sich ja „The Rolling Thunder Revue: Die Live-Aufnahmen von 1975“ holen: eine 14-CD-Sammlung mit 148 Titeln aus den Proben und Aufführungen der Tour.