Momente des Staunens: Marianne Faithfull veröffentlicht „She Walks in Beauty“

Marianne Faithfull and Warren Ellis FOTO: Rosie Matheson

Mit „She Walks in Beauty“ veröffentlicht Marianne Faithfull gemeinsam mit dem Komponisten und Multiinstrumentalisten Warren Ellis eines der markantesten und einzigartigsten Alben ihres langen, außergewöhnlichen Lebens und ihrer Karriere.

Von Dylan Cem Akalin

„Sie geht in Schönheit, wie die Nacht der wolkenlosen Gefilde und des Sternenhimmels.“ So beginnt das berühmte Gedicht von Lord Byron, in dem er das Gefühl für die Schönheit einer Frau einzufangen sucht. Der Dichter vergleicht diese Frau mit einer makellosen sternenklaren Nacht und beschreibt ihre Schönheit als harmonisches „Treffen“ von Dunkelheit und Licht. Marianne Faithfull rezitiert die Zeilen mit der Verletzlichkeit einer reifen Frau, die voller Dankbarkeit an ihre Jugend zurückdenkt. Und bei all der Sensibilität in der Stimme überdeckt die Lebenserfahrung den allzu polierten Glanz des Romantischen, was aus der einstigen verklärten Liebeserklärung an die Schöne ein feierliches Gebet macht. „She Walks in Beauty“ ist das Titelstück eines außergewöhnlichen Albums voller Poesie und Musik von Marianne Faithfull und Warren Ellis, das in Zusammenarbeit mit Nick Cave, Brian Eno und Vincent Ségal entstand. Die musikalische Begleitung gerät in den Hintergrund, eigentlich ist es ein Album voller Gedichts-Rezitationen.

„Ich wollte nicht, dass die Leute denken, es ging um mich“, sagt die 74-Jährige in einem Interview über dieses Stück. „Oh Gott! Ich hoffe, sie glauben nicht, dass ich dieses Lied, dieses Gedicht aufnehme, weil ich denke, dass es um mich geht.“ Es gehe doch einfach nur um ein Mädchen, in das der Dichter verliebt war. „Ich sehe es so: Er kommt eines nachts nach Hause, zurück von einer Abendrunde um ihr Haus oder das ihrer Eltern, und er setzt sich hin und schreibt dieses Gedicht.“  Die Vorstellung, die Faithfull da von dem Dichter beschreibt, ist reizvoll.

Weithergeholt ist das Projekt nicht. Marianne Faithfull gehört zu jener Generation, für die die Lektüre der englischen Klassiker nicht nur zur Grundbildung gehörte, man lebte mit der Poesie der Vergangenheit, und Faithfull denkt in Dankbarkeit zurück an den Unterricht bei Frau Simpson über englische romantische Poesie.

Marianne Faithfull lag auf der Intensivstation

Warren ist seit 1993 Mitglied der Bad Seeds und Komponist von fast 20 Film- und Theaterpartituren, darunter für The Road und The Proposition. Seit ihrem 2005er Album „Before the Poison“ arbeitet Warren mit Marianne als Musikerin und Songwriterin zusammen. Dass er für das aktuelle Projekt auch Nick Cave gewinnen konnte, dürfte ihm nicht schwergefallen sein.

Ich gebe zu, ich hatte einen Schreckmoment, als die Nadel des Plattenspielers aufsetzte und Marianne Faithfull nicht sang, nicht beim ersten Song, nicht beim zweiten – auf überhaupt keinem Track. Denn die 74-Jährige erkrankte an Covid, und in Pressemeldungen hieß es, sie werde vielleicht nie mehr singen können. „Covid hat viel Schaden angerichtet, viel!“, sagt die Künstlerin. „Vor allem in drei Bereichen. In meiner Lunge, was für einen Sänger sehr ernst ist, und in meiner Erinnerung, was auch sehr ernst ist, und sie verursacht Müdigkeit.“ Mittlerweile ist Faithfull geimpft. Aber die Nachwirkungen der schweren Erkrankung seien nicht zu leugnen, sagt sie: „Ich muss viel tun, um mir selbst zu helfen. Ich habe zweimal pro Woche Physiotherapie, und ein sehr lieber Freund für mein ganzes Leben kommt mit seiner schönen Gitarre vorbei, Martin, und wir arbeiten zusammen an einem Song. Und das ist eines der besten Dinge, die du für deine Lunge tun kannst.“

Elf romantische Gedichte

Das Virus erwischte sie mitten im Arbeitsprozess zu den Aufnahmen. Drei Wochen lag sie auf der Intensivstation. „Ich wäre fast gestorben. Über meinem Bett hing der Hinweis: ‚Nur Palliativversorgung‘. Wie auch immer, ich bin nicht gestorben, Gott sei Dank. Vielen Dank an alle. Die Ärzte sagten, sie hätten noch nie jemanden behandelt, der so intensiv am Leben hing. Das war mir nicht bewusst. Ich war selbst erstaunt. Ich habe überlebt. Und die Gedichte, die wir danach aufgenommen haben, sind wunderbar, weil sie noch verletzlicher sind.“

Marianne Faithfull and Warren Ellis FOTO: Rosie Matheson

„She Walks in Beauty“ ist sicherlich von Leidenschaft geführt. Faithfull liest elf romantische Gedichte über eine Klangarchitektur, die von Warren Ellis geschaffen wurde. Doch es ist nicht die Musik, die den Zuhörer packt, ein Großteil der Anziehungskraft des Albums beruht auf der noblen englischen Sprache und ihrer weisen, verwitterten, anachronistischen Stimme, die den Gedichten etwas Zeitloses gibt. Faithfull hatte immer schon eine faszinierende Stimme, voller Lebenserfahrung, von gewisser Strenge, aber zurückhaltender Würde. Und das warme, heisere Raspeln beruhigt und fesselt zugleich. Die Stimme schafft Vertrauen, um uns bei der Hand zu nehmen und die komplexen Gedichte zu entwirren und uns durch sie zu führen. Marianne Faithfull hat das natürliche Talent, den Moment der gegenwärtigen Angst aufzuspüren, beruhigend einzuwirken, um beim Leser Momente des Staunens, der demütigenden Akzeptanz und der Freude an der Schönheit des Wortes zu erzeugen.

Thomas Hoods „Bridge of Sighs“

Da ist zum Beispiel Thomas Hoods „Bridge of Sighs“. Es geht um ein Mädchen, das Selbstmord begangen hat, als es von der Waterloo-Brücke in London gesprungen ist. Es sei eines ihrer Favoriten, erzählt die Künstlerin: „Technisch gesehen ist es ein perfektes Gedicht. Die Alliteration, die Reime, alles passt. Es ist richtig schön. Und dann berührt dich Thomas Hood. Wenn du dieses Gedicht liest oder es auf meiner Platte hörst, dann willst du dich diesem Mädchen nähern. Und das ist das Geniale an dem Werk.“

Das stimmt. Schon der Rhythmus der Worte, der Beschaffenheit der Zeilen, in denen eine Mischung aus fiebriger Beobachtung und flehentlichem Plädoyer zum Ausdruck kommt, ist ungemein packend: „Look at her garments/ Clinging like cerements;/ Whilst the wave constantly /Drips from her clothing; /Take her up instantly, /Loving, not loathing…“

Diese Sammlung von Gedichten ist eine eindrucksvolle Betrachtung des Vergänglichen, eine schöne Konfrontation mit der Sterblichkeit. Und dennoch liegt der Fokus nicht nur im düsteren, sondern im tröstlichen Bereich des Endlichen. Da ist die magische Verführung von „La Belle Dame Sans Merci“, da sind die gewaltigen Zeilen von John Keats. Bei „Ode to a Nightingale“ steht der Dichter in einem dunklen Wald und hört das betörende und schöne Lied einer Nachtigall. Dies provoziert eine tiefe und mäanderförmige Meditation über Zeit, Tod, Schönheit, Natur und menschliches Leiden.

Keats sehnt sich nach einem Schluck Wein, der ihn aus sich herausnehmen und ihm erlauben würde, seine Existenz mit der des Vogels zu verbinden. Der Wein würde ihn in einen Zustand versetzen, in dem er nicht mehr er selbst sein würde und sich bewusst wäre, dass das Leben voller Schmerzen ist, dass die Jungen sterben, die Alten leiden und dass nur das Nachdenken über das Leben Trauer und Verzweiflung bringt. Aber Wein wird nicht benötigt, um ihm die Flucht zu ermöglichen. Seine Vorstellungskraft wird genauso gut dienen. Sobald er dies merkt, wird er im Geiste über die Bäume gehoben und kann den Mond und die Sterne sehen, obwohl dort, wo er sich physisch befindet, nur ein Lichtschimmer zu sehen ist.

Faithfull taucht tief ein in ihre eigene Vergangenheit und stützt sich dabei auf ihre Leidenschaft für die englischen romantischen Dichter, eine Leidenschaft, die sie an der St. Joseph’s Convent School pflegte, bevor sie im Alter von 16 Jahren nach London ging. Dort trat sie in die Welt von Mick Jagger und den Rolling Stones, die sie auf den Weg zum Popstar brachten. Wir erinnern uns an „As Tears Go By“, an die ikonografische Figur der Faithfull, die Empörung der sechziger Jahre, an ihre Sucht, die sie dem Tode nahebrachte. Das alles drückt ihre Stimme aus.

Titel auf „She Walks in Beauty“

1. She Walks in Beauty (Lord Byron) (2:40)

2. The Bridge of Sighs (Thomas Hood) (4:55)

3. La Belle Dame sans Merci (John Keats) (4:15)

4. Ode to a Nightingale (John Keats) (6:49)

5. To Autumn (John Keats) (3:16)

6. Ozymandias (Percy Bysshe Shelley) (3:08)

7. The Prelude : Book One Introduction (William Wordsworth) (2:50)

8. Surprised by Joy (William Woodsworth) (2:08)

9. To the Moon (Percy Bysshe Shelley) (2:21)

10. So We’ll Go No More a Roving (Lord Byron) (2:20)

11. The Lady of Shallot (Lord Alfred Tennyson) (11:46)