Marillions 18. Studioalbum: FEAR ist das beste Produkt der Post-Fish-Ära

Das neue Album von Marillion mit Sänger Steve (h) Hogarth. FOTOS: PROMO/Akalin

Es zeugt schon von einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, ein Progrock-Album so zu starten, wie es Marillion mit FEAR tut. Zurückhaltend, äußerst sparsam instrumentiert, zarter Gesang, tiefgründiger Text. Da deutet nichts von radiotauglicher Komposition hin, und doch: FEAR ist ein Meisterwerk. Steve Hogarth, der kürzlich schon live in Köln überzeugte, beweist einmal mehr, was für ein außergewöhnlicher Sänger er ist. Gerade bei diesen leisen Stücken, die zunächst kaum eine eindeutig melodische Grundform im Sinne des üblichen Vers/Chorus-Schemas erkennen lassen, zeigt sich, was ein Sänger drauf hat. Hogarth kann’s.

FEAR, so erzählt sie Band, sei ein Protestalbum. „Gute-Laune-Musik“ zu schreiben, sei ihre Sache nicht mehr. „Wir müssen uns nicht mehr um das musikalisch gute Gefühl kümmern“, sagt Hogarth. Die Band um Mastermind und Gitarrist Steve Rothery, der natürlich wieder einmal seinen unfassbar guten Instinkt für die Instrumentierung bestätigt, hat ein Album vorgelegt, das sich mit den politischen und sozialen Themen beschäftigt, die heute jeden Tag auf der Tagesordnung stehen: Es geht um Flüchtlinge, darum, wie man sie empfängt, es geht um die Macht des Kapitals.

marillion_fear_albumcover_500„El Dorado“ kann durchaus als Sinnbild für Europa, aus Sicht der britischen Band natürlich insbesondere England gelten. Land der goldenen Straßen, so stellen sich vielleicht manche Flüchtlinge Europa vor: „Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter/ leugnen unsere sogenannten goldenen Straßen/ flüchten vor dem zerstörten Leben/ voll gegen Wände“, heißt es da. Es geht um die, die alles haben und die, die vor dem Nichts stehen. Marillion liegt es aber fern, die Themen plakativ rauszuhauen. Sie reflektieren auch die Ängste der Menschen, die vermeintlich meinen, ihren hart verdienten Besitz verteidigen zu müssen. Aber: „There is so much more that binds us than divides us/But our FEAR denies it.”

„The New Kings“ wirft einen bösen Blick auf den internationalen Kapitalismus, der „London von Monaco aus kauft“. Die „neuen Könige“, das sind die Oligarchen aus Russland, das sind die Börsen, die Geldgeschäfte ist erschreckenden Dimensionen. „Alle, und alles, die Steuerhinterzieher, Tony Blair… die Lügen uns in die Tasche“, erklärt Hogarth. „Die Menschen ohne Moral; behaupten, moralisch zu handeln. Und wenn ich ,Fuck everyone and run‘ im Song ,The New Kings‘ singe, dann singe ich es bewusst sehr leise, mit Kopfstimme, mit Traurigkeit, mit Reflektion – und ich sage damit aus: Soweit ist es gekommen!“

„The Leavers“ behandelt die Wirkung des flüchtigen Lebens on the road auf die, die immer wieder Abschied nehmen. Es geht um das Leben als Zigeuner, als den Nervenkitzel suchenden Menschen und das Loch, in das man fällt, wenn man als Musiker nach Monaten auf Tour plötzlich zu Hause ankommt und sich unnütz fühlt. „Der Job ist simpel,“ sagt Hogarth, „Wir nutzen das großartige Privileg, dass wir sowohl eine Plattform wie auch ein Publikum haben, um die Leute zu ermutigen, in den Spiegel zu schauen und sich die großen Fragen zu stellen – indem wir genau das selbst tun.“

Marillion. FOTO: PROMO
Marillion. FOTO: PROMO

„FEAR – Fuck Everyone And Run“ sei natürlich provokativ, so Hogarth, aber auf keinen Fall beleidigend gemeint. Er ist Teil einer Textzeile des Songs „New Kings“, vorgetragen in klagender Falsettstimme. „Wir haben den Titel ‚F E A R‘ schon einigermaßen genüsslich verwendet, in erster Linie, weil er zeigt, dass wir keinem Thema aus dem Weg gegangen sind, aber dabei mit einer gewissen Traurigkeit. Im menschlichen Verhalten gibt es zwei grundsätzliche Impulse: Liebe und Angst – und alles Gute kommt von der Liebe.“

„Das Album zeigt wirklich, wer wir sind“, sagt Steve Rothery. Stimmt. Soundmäßig sind Marillion mit ihrem 18. Studioalbum längst als Leitfigur des Progrock angekommen. Wo der Gesang anspruchsvoll durch die Suiten führt, leitet die Gitarre den Zuhörer sicher durch die Klippen. Das Klavier sorgt manches Mal für Ausgeglichenheit. Die wiegenden Gitarren-Soli von Rothery, die flächigen Pianotupfer und voluminösen Keyboard-Wolken – und eben der unverwechselbare und fantastische Gesang stehen für die Marke „Marillion“. So sehr die Texte auch aktuelle politische Themen aufgreifen, die musikalische Grundstimmung ist alles andere als aggressiv, im Gegenteil: Marillion schlägt eher einen melancholischen Ton an. Schöne Klänge zu schweren Inhalten.

Schon bei „Marbles“ (2004) oder „Sounds That Can‘t Be Made“ (2012) konnte man ja ahnen, in welche Richtung es mit dieser Band gehen würde. „FEAR“ ist nun diese Meisterschaft gelungen – und Fish längst vergessen als Trademark einer Band, die es verdient hat, nicht ewig mit dem durchaus charismatischen Sänger in Verbindung gebracht zu werden. FEAR ist sicherlich das beste Produkt der Post-Fish-Ära.

VÖ: 23. September 2016 durch earMUSIC/ Edel