Was für ein Abend für Progrock-Fans in der Kantine in Köln: Der Hauptact Leprous brachte mit The Ocean und Port Noir zwei fantastische Support-Bands mit.
Von Dylan Cem Akalin
Leprous gehört zu jenen Bands, die man einfach mal live erlebt haben muss – sonst glaubt man’s einfach nicht. Der Name „Leprakranke“ ist vielleicht ja abschreckend, aber die Jungs kommen recht adrett auf die Bühne der Kantine. Ganz in schwarz. Die Hemden bis zum letzten Kragenknopf geschlossen. Einar Solberg trägt sogar eine schwarze Krawatte. Diese Band bringt so viel Kraft und Intensität auf die Bühne, dass es eigentlich unmöglich ist, das auf eine Aufnahme zu pressen. Die Band legt eine Show hin, dass einem nur noch der Mund offenstehen bleibt.
Einar Solberg ist als Frontmann der Band eine natürliche Kraft auf der Bühne, die viel zu klein scheint für seine Energie. Und ich bin mir auch sicher, dass wir die Norweger nicht mehr lang in solch intimer Atmosphäre wie der Kantine sehen werden. Vor allem, da sie ihre Musik zugänglicher gemacht hat. Vieles von dem, was Solberg, Tor Oddmund Suhrke (Gitarre), Robin Ognedal (Gitarre), Simen Børven (Bass) und Baard Kolstad (Drums) sowie Cellist Raphael Weinroth-Browne machen, erinnert stark an Muse. Und das nicht nur wegen der intensiven Lust am gestenreichen Progressive Rock, diese Mischung aus klassischen Elementen mit komplexen Strukturen und Metal-Attitüden. Die beiden Band spielen in einer völlig anderen Liga. Diese Perfektion im Ausdruck und in der Umsetzung von vielschichtigen, verschlungenen Songs, die scheinbare Leichtigkeit in den ungemein schwierigen Vokalparts sind im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaft.
Der einzige Countertenor im Rock
Solberg gehört für mich zu den stärksten Sängern des Genres. Der Mann hat einen Stimmumfang und eine kontrollierte Beherrschung seines Instruments, die es nur in der Klassik gibt. Ich habe noch nicht viele Sänger im Rock erlebt, die Sänger bezeichnet, der so mühelos mit Hilfe einer durch Brustresonanz verstärkten Kopfstimmen- beziehungsweise Falsett-Technik in Alt- oder sogar Sopranlage singen können. Ich schätze mal, Solberg ist der einzige Countertenor in der Metal- und Prockrockszene. Aber es gelingt Solberg immer wieder, neue Farben in seinen Gesang einzubauen, so wie etwa bei „Distant Bells“, wo sie geradezu Brüche in den tieferen Lagen bekommt. Bei „Alleviate“ mischen sich gar leichte Barock-Nuancen. Überhaupt ein ganz starker Song, bei dem das Cello auch richtig stark zum Einsatz kommt.
Solberg selbst sagt ja, dass „Alleviate“ für ihn ein sehr wichtiges Lied sei. „Es birgt Hoffnung in der Melancholie. Es ist vielleicht die zugänglichste Melodie, die wir je hatten, aber es enthält auch eine tiefere Botschaft. Zweifellos wird es für einige ein kontroverser Track sein, wenn man bedenkt, wo Leprous angefangen hat, aber genau darum geht es bei Leprous: Vorwärts!“
Ungewöhnliche Sounds
Und genau das merkt man der Band an, dass sie vorwärtsstrebt mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten. „The Cloak“ hat mich an diesem Abend noch am ehesten an Opeth erinnert. Auch wegen dieser Folkeinflüsse in der Musik und den ungewöhnlichen Sounds, die fast wie von einer dampfgetriebenen Harmonika zu kommen scheinen.
Und die Band schafft Atmosphären mit fast zu einfachen Mitteln. Diese fast cleane Gitarre bei „From The Flame“ über die wilde Passagen spielen zu lassen, ist einfach genial. „Observe the Train“ ist so vielschichtig und birgt so viele Einflüsse, die von Aha bis Zappa, von Kirchenmusik bis zu Electronic-Psycho-Rock reichen und im Mittelteil geradezu explodieren. Bei „Bonneville“ lässt Eno schön grüßen.
Die Band spielt auf den Punkt, und Schlagzeuger Baard Kolstad erweist sich für mich mittlerweile als einer der besten Schlagzeuger des Progs. Ihm beim Spielen zuzusehen, ist ein echter Genuss. Die Truppe erschafft einen sehr einzigartigen Sound, und das, da die Keyboards meist eine eher strukturelle Rolle spielen und in der Regel subtile Synthies und Soundscapes hinzufügen. Die Musik ist dramatisch, theatralisch, ja, sehr emotional und trotz einiger Rätselhaftigkeit aufrichtig. Großen Anteil daran hat eben die ungewöhnliche Stimme. Ein ganz starker Auftritt, bei dem selbstredend die Stücke vom aktuellen, sehr zu empfehlenden Album “Pitfalls” die Hauptrolle spielen.
Port Noir aus Schweden
Zuvor haben wir aber noch zwei ganz starke Acts erlebt. Ganz stark: die Schweden von Port Noir, die sich immer mehr vom düsteren Post Metal des Debütalbums „Puls“ entfernen und ihr Set mit „Young Bloods“ aus ihrem aktuellen Album „The New Routine“ eröffnen, ein Stück, das ungemein schwer und rockig in der Instrumentierung ist und im pointierten melodiösen Gesang einen schönen Gegensatz bildet. Überhaupt ist Love Andersson (Gesang, Bass) ein cooler Sänger, der das etwas sperrigere Flawless mit den metallischen Querfeuern mit einem fetten Bass unterstützt. Mit Andreas Wiberg (Schlagzeug) und Andreas Hollstrand (Gitarre, Background Gesang) schaffen Port Noir einen alternativen Rock, in das sie geschickt Mittel des Pop, R&B und Hip-Hop einflechten. Starker Auftritt.
The Ocean aus Berlin
Völlig im Nebel verschwunden waren The Ocean. Die Nebelmaschine haben die Berliner derart kräftig eingesetzt, dass nur rötliche und grüne Scheinwerfer hinter mysteriösen Schattenwesen zu erkennen sind. Der Experimental-/Post-Metal um Robin Staps steht seit fast zwanzig Jahren für eine besondere Mischung aus atmosphärischem Progressive Metal, Art Rock und brachialem Ausbruch. Die Musik ist verwandt mit der von The Dillinger Escape Plan oder TesseracT.
Thematisch handele es sich um die „Ewige Wiederkunft des Gleichen“, sagt Staps – ein zentraler Gedanke in Friedrich Nietzsches Philosophie, dem zufolge sich alle Ereignisse unendlich oft wiederholen, unendlich oft in unendlicher Zeit und Raum. Die letzten Alben beschäftigten sich auf konzeptionelle Art mit der Evolution, Diversifikation der Lebensformen und dem Massenaussterben im Erdzeitalter des Paläozoikums. Da werden gutturale und klare Gesänge meisterhaft nebeneinander gestellt, was zu einer atemberaubenden und gleichzeitig brutalen musikalischen Reise an einer Wand aus Gitarren führt. Es gibt aber auch ruhige Momente, bei denen flüsternde Schreie wie im Hintergrund zu schweben scheinen.