Lee Konitz, Pionier des Cool Jazz, starb an Komplikationen des Coronavirus

Lee Konitz vom gleichnamigen Album

Er war bis zuletzt extrem aktiv. Der Altsaxofonist Lee Konitz, ein Pionier des Cool Jazz, der sich zeitlebens weigerte, in irgendwelche Schubladen gesteckt zu werden, starb an Komplikationen des Coronavirus.

Von Dylan Cem Akalin

Seine Freunde vom Birdland Jazz Club in New York berichteten es Donnerstag kurz nach Mitternacht (MEZ) als erste: „RIP Lee Konitz. Der Altsaxophonist war einer der letzten vier lebenden Künstler, die am Eröffnungsabend, dem 15. Dezember 1949, in Birdland auftraten.“ Lee Konitz, sicher einer der eigenwilligsten Saxophonisten, starb am Mittwoch in Manhattan. Er war 92 Jahre alt. Seine Nichte Linda Konitz sagte der New York Times, die Ursache seien Komplikationen des Coronavirus gewesen. Er habe dann auch eine Lungenentzündung bekommen.

Konitz war zwar stark beeinflusst von Charlie Parker. Allerdings war das Spiel von Konitz sehr viel zurückhaltender, eher nachdenklich als impulsiv. Und Konitz benutzte auch so gut wie kein Vibrato und meistens im höheren Register. Trotz eines eher stabilen Ansatzes, in dem dramatische Verzierungen peinlich vermieden wurden, war Konitz‘ Sound aber durchaus bezaubernd. Insofern bildete Konitz sowas wie eine Alternative zu Charlie Parker.

Lee Konitz vom gleichnamigen Album

Konitz war ein Musiker, der ausgestattet war mit feiner Intelligenz und der geradezu akribischen Liebe zum Detail. Seine Mitspieler erzählten immer wieder, dass Konitz ein Bandleader war, der sehr spezifische Anweisungen gab. Konitz war ein Musiker, der eine klare Vorstellung davon hatte, wie ein Stück aufgebaut sein musste – und das galt auch und gerade für die Improvisationen. Er legte Wert auf einen gewissen Fluss. Wenn Musiker eine Linie spielte und der nächste eintrat, sollte dieser beispielsweise mit der Note beginnen, mit der die andere Person endete, und ein wenig von der Ausdrucksweise verwenden, in der sich sein Mitspieler befunden hatte. Das erforderte nicht nur ein intensives Gehörtraining, sondern auch ein konzentriertes Einlassen auf seine Mitspieler. Form und musikalische Struktur waren dem Sohn jüdischer Einwanderer immens wichtig.

Seine Eltern betrieben während der Weltwirtschaftskrise im Stadtteil Rogers Park in Chicago eine Wäscherei und Reinigung. Und Lee war der Jüngste von drei Söhnen. Der Vater war Österreicher, die Mutter Russin, die insbesondere seine musikalischen Interessen förderte. Als Kind studierte Konitz zunächst Klarinette bei einem Mitglied des Chicago Symphony Orchestra. Er sei inspiriert worden von Benny Goodman, erzählte er Chronisten. Zum Saxophon wechselte er erst später. 1945 begann er seine musikalische Karriere bei der in Chicago ansässigen Tanzkapelle Jerry Wald, wechselte dann 1947 ins Claude Thornhill Orchester. Bekannt wurde er erst als Mitglied im Stan Kenton-Ensemble.

Aber wirklich wichtig wurden insbesondere zwei Musiker für ihn: Miles Davis und vor allem seine Zusammenarbeit mit dem Pianisten und Komponisten Lennie Tristano. Was Konitz‘ an dem blinden, musikalisch visionären Chicagoer Pianisten besonders schätzte und von ihm lernte, waren dessen fast mathematisch makelloser melodischer Erfindungsreichtum. „Er fühlte und kommunizierte, dass Musik eine ernste Angelegenheit war“, erklärte Konitz in der Autobiographie „Conversations On The Improviser’s Art“. „Es war kein Spiel oder ein Mittel, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, es war eine Lebenskraft.“

Tristano galt aus Autokrat, seine Ungeduld war ebenso gefürchtet wie legendär. Eine Schlüsselkomponente von Tristanos Pädagogik war, dass seine Schüler die Soli von Lester Young und Charlie Parker vorsingen mussten, um sie so tief zu verinnerlichen, dass sie dann ihre eigenen komponierten Variationen kreieren konnten. Und so verwundert es nicht, dass Konitz später erklärte, dass das Gesangsgefühl sein Spielgefühl bestimmte. Der Bassist Jeff Denson erzählte einmal in einem Interview, wie er einmal mit seiner Band Minsarah, dem Pianisten Florian Weber und dem Schlagzeuger Ziv Ravitz, Konitz zum ersten Mal in Köln besuchten. Da habe er sofort vorgeschlagen, gemeinsam zu singen. „Nach einigen Minuten sagte Lee: Klingt nach einer Band.“ Danach hätten sie jahrelang bei den gemeinsamen Touren im Bus gesungen und dabei improvisiert.

„Wenn ich spiele, denke ich nicht daran, Traurigkeit oder eine Bildidee auszudrücken oder einen emotionalen Effekt zu erzielen“, erklärte er in seiner Autobiografie. „Ich denke darüber nach, eine melodische Abfolge von Noten mit einem möglichst genauen Zeitgefühl zu spielen. Ich fühle mich nicht sehr poetisch. Ich höre von Menschen, die Farben oder Bilder oder eine spirituelle Motivation sehen. Ich spiele nur die Musik klar, warm und positiv – das ist wirklich meine Motivation.“ Als Konitz 2015 in die DownBeat Hall of Fame aufgenommen wurde, erzählte er über seinen musikalischen Ansat: „Ich beginne mit der ersten Note und vertraue darauf, dass etwas passieren wird, wenn ich ihm eine Chance gebe. Es hat damit zu tun, dass man sich die Zeit nimmt, um die Note, die ich spiele, auf irgendeine Weise auflösen zu lassen. Ich spiele also nicht nur Fingertechnik, eine Note nach der anderen ohne Unterbrechung, atme schnell ein, wenn ich außer Atem bin. Das geht buchstäblich Note für Note.“

Und Lee Konitz war einer, der keine Berührungsängste zu jungen Musikern hatte. Da gibt es dieses wunderschöne Album Grace Kelly/Lee Konitz „GRACEfulLEE“ aus dem Jahr 2008. Da ist Lee Konitz 80 Jahre alt, Rufus Reid ist 64, Matt Wilson und Russell Malone sind Mitte 40 und Grace Kelly ist 15. Auf dem Album gibt es eine Version von Konitz Klassiker „Subconscious Lee“. Die 15-Jährige gibt sich da selbstbewusst. Statt die wohlklingenden Linien ihres Mentors aufzugreifen, stoppt sie den Fluss mit einer kühnen Abfolge von Satzzeichen. Konitz erklärte gibt amüsiert und beeindruckt: „Ich habe ihr die Erlaubnis gegeben, besser zu spielen als ich, als sie es einfach nicht mehr aushalten konnte.“

2014 bringt er mit Dan Tepfer, Michael Janisch und Jeff Williams „First Meeting: Live In London, Volume 1“ raus. Da hat er schon eine mehr als 60-jährige Karriere hinter sich und ist immer noch so vital, kreativ und von instrumenteller Kraft wie immer. Er war bis zuletzt ein Musiker, der im Moment gelebt hat. Zu seinem 92. Geburtstag spielt er mit dem Pianisten Dan Tepfer – was für ein musikalischer Dialog. Das Coronavirus hat sein Spiel beendet.