Roboterstimme, Zahlenästhetik, stoischer Puls: Kraftwerk verwandeln die Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf in ein digitales Versuchslabor. Zwischen „Computerwelt“, „Autobahn“ und „Die Roboter“ entfaltet sich kein nostalgisches Best-of, sondern ein streng konzipiertes Gesamtkunstwerk, das Musik, Bild und Gesellschaft neu vermisst – kühl, präzise und überraschend gegenwärtig.
Von Dylan C. Akalin
Punkt 20 Uhr begrüßt eine Roboterstimme: „Meine Damen und Herren, heute Abend: die Menschmaschine.“ Zahlen fliegen über die fast hallenbreite Leinwand, formen sich zu wabernden, organischen Massen. Kraftwerk zelebriert die Ästhetik des Digitalen.

Farbige Flächen, an denen der Künstler Gerhard Richter seine Freude gehabt hätte, ordnen sich in immer neuen Konstellationen, während die vier leuchtenden Kraftwerker an ihren symmetrischen Pulten ihre Arbeit unbeweglich durchführen. Bassbetonte elektronische Rhythmen donnern durch den Saal, während orchestrale digitale Orchestermelodien sich darüberlegen. So startet am Sonntag das erste von zwei Düsseldorfer Konzerten von Kraftwerk in der Mitsubishi Electric Halle mit „Nummern / Computerwelt / Computerwelt 2“ und „Heimcomputer / It’s More Fun to Compute“.
Fliegende Untertassen auf der riesigen Leinwand
Die Elektro-Pop- und Techno-Pioniere um Gründungsmitglied Ralf Hütter sowie seinen Mitstreitern Henning Schmitz, Falk Grieffenhagen und Georg Bongartz liefern eine gut zweistündige Show voller visueller und klanglicher Impressionen. Sie entführen die rund 7000 Fans in ihr „Spacelab“, lassen Fliegende Untertassen über die gigantische Leinwand schweben, die bei der 3D-Show vor einigen Jahren natürlich noch effektvoller rüberkamen, versinken in die digitale Welt von Ätherwellen, wobei sich dann auch mal der Sound einer Kirchenorgel einschleicht, zeichnen uns die Welt voller Menschmaschinen („halb Wesen, halb Ding“), erscheinen selbst als verpixelte Männlein im „Electric Café“ und führen uns die heile Welt von einst auf den deutschen Autobahnen vor, als VW Käfer, Mercedes Benz mit Heckflosse, die „Knutschkugel“ Isetta und Citroën DS noch staufrei durch saubere und blühende Landschaften rollen konnten.
Die heile Welt der Autobahn
Schwarz-weiß-Aufnahmen aus den Sixties, vielleicht gar aus den 1950er Jahren zeigen Models der Vergangenheit, beim Themenschwerpunkt „Tour de France“ mischen sich historische und neuere Filmsequenzen, bleiben aber alle in Schwerz-Weiß. Zum Kraftwerk-Konzept gehört das Spiel mit reduzierten Formeln, mit ins Gedächtnis eingebrannten Labeln, ab es der Mercedes-Stern ist, die Spalttablette oder der Schriftzug von Klosterfrau Melissengeist, unsere Gedanken und Vorstellungswelt ist reduziert auf Symbole, so wie die digitale Welt aus Zahlen und wenigen Zeichen besteht. Linien sind so einzigartig und individuell wie die eines Fingerabdrucks, so suggerieren Bilder und Sounds bei „La Forme“.
Kraftwerk denkt Musik als System
In dieser Reduktion liegt der eigentliche Kern des Kraftwerk’schen Projekts. Die Band entwirft keine Geschichten, sie formuliert Modelle. Die Stücke funktionieren weniger als Lieder im klassischen Sinne denn als Versuchsanordnungen, in denen Mensch, Technik, Körper und Gesellschaft immer wieder neu zusammengesetzt werden. Kraftwerk denkt Musik als System – zyklisch, modular, funktional. Wie heißt es gegen Ende des Konzerts? „Musik als Träger von Ideen.“ Wiederholung ist hier kein Mangel an Ideen, sondern Methode: Sie verweist auf industrielle Produktionsprozesse ebenso wie auf digitale Routinen, die unser Alltagsleben strukturieren, oder Rituale, an denen wir uns festhalten.
Philosophisch und soziologisch anregend
Musikalisch bleibt das Set dabei erstaunlich offen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die berühmten Sequenzen, die seit Jahrzehnten nahezu unverändert laufen, wirken nicht museal, sondern eher wie Grundformeln, auf denen große Teile elektronischer Pop- und Clubmusik bis heute aufbauen. Der trockene Puls von „Nummern“, die stoische Motorik von „Trans-Europa Express“ oder das synthetische Gleiten von „Neonlicht“ entfalten live eine physische Präsenz, die weniger auf Lautstärke als auf Präzision setzt. Kraftwerk spielen nicht gegen den Körper, sondern schreiben ihm eine Rolle zu: als Träger von Rhythmus, als Teil der Maschine.
Philosophisch ist das Konzert eine permanente Verhandlung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Wenn Hütter und seine Mitstreiter nahezu regungslos hinter ihren Pulten stehen, verschwimmt die Grenze zwischen Bediener und Apparat. Die berühmte Entfremdungsthese der Moderne wird hier nicht beklagt, sondern nüchtern ausgestellt – und paradoxerweise gefeiert. Der Mensch erscheint als Funktionseinheit in einem größeren technischen Zusammenhang – nicht unbedingt als Opfer, sondern als Mitproduzent. Selbst Ironie, etwa bei „Das Model“ oder „Computer Liebe“, bleibt kontrolliert und kühl, wie ein Kommentar im Quellcode eines Programms.
Soziologisch interessant ist die konsequente Vermeidung von Individualisierung. Kein Bandmitglied tritt hervor, keine Pose bricht das streng symmetrische Bühnenbild. Kraftwerk verweigern den Popstar-Mythos und ersetzen ihn durch die Idee des Kollektivs – oder genauer: durch das Prinzip der Marke. Die Band selbst ist Logo, Typografie, Klangarchiv. In Zeiten permanenter Selbstvermarktung wirkt diese Haltung fast anachronistisch, zugleich aber überraschend zeitgemäß.
An diesem Abend gibt es aber eine Ausnahme, wohl das erste Mal in 55 Jahren Hütter zum Publikum, eine seltene und überraschende Abweichung von der sonst typischen „Mensch-Maschine“-Performance. Wir werden Zeugen eines emotionalen Moments, der Roboter zeigt menschliche Gefühle – um einen Freund zu würdigen, nämlich den verstorbenen Ryūichi Sakamoto, der unter anderem die Musik zu „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“ schrieb, der Film entstand 1983 unter der Regie von Nagisa Ōshima und wurde vor allem wegen David Bowie in der Huptrolle bekannt. Kraftwerk spielt das Titelstück.
Eigentlich ein absurdes Konzept
Dass das Publikum dennoch – oder gerade deshalb – euphorisch reagiert, gehört wahrscheinlich ebenso zum ja irgendwie absurden Konzept – und verweist auf die nachhaltige Wirkung dieses Plans. Wenn am Ende bei „Die Roboter“ die mechanischen Doppelgänger erscheinen, ist das weniger Gag als logische Pointe: Die Musik hat längst gezeigt, dass die Menschmaschine kein Zukunftsszenario ist, sondern eine Gegenwartsbeschreibung. Kraftwerk liefern keine Antworten und keine Emotionen im herkömmlichen Sinn. Sie liefern Strukturen – klar, wiederholbar, funktional. Und genau darin liegt ihre anhaltende Faszination.
Reflexion über Kunst
Gleichzeitig ist dieser Abend auch eine präzise Reflexion über Kunst selbst und ihre Bedingungen. Kraftwerk begreifen Kunst nicht als Ausdruck innerer Befindlichkeit, sondern als bewusst entworfene Konstruktion, als konzeptuelle Setzung. Die Nähe zur bildenden Kunst – von der Op Art über den Konstruktivismus bis hin zur Konzeptkunst – ist dabei kein Zitat, sondern strukturell eingeschrieben. Klang, Bild, Typografie und Bewegung folgen einem übergeordneten Ordnungsprinzip, das sich jeder spontanen Geste entzieht.
Die an Piet Mondrian erinnernden Bildzitate sind sicherlich kein Zufall, verfolgte dieser doch auch das Ziel, eine universelle, spirituelle Harmonie darzustellen, indem er seine Darstellung der Welt auf die grundlegendsten Elemente reduzierte. Kunst erscheint dort wie hier als funktionales System, das sich seiner eigenen Mittel bewusst ist und diese offenlegt. In einer Zeit, in der Authentizität oft mit Unmittelbarkeit verwechselt wird, insistiert Kraftwerk auf der Idee, dass künstlerische Wahrheit auch – oder gerade – aus Distanz, Planung und Wiederholung entstehen kann. So wird dieser Abend nicht nur zum Konzerterlebnis, sondern zu einem präzisen durchkomponierten Gesamtkunstwerk, das weit über den Moment hinausweist und mit seinen ästhetischen, gesellschaftlichen und technischen Setzungen nachhaltige, inspirierende Denk- und Wahrnehmungsräume eröffnet. Einfach fantastisch!

Setlist Kraftwerk, Düsseldorf, 14. Dezember 2025:
Nummern / Computerwelt / Computerwelt 2
Heimcomputer / It’s More Fun to Compute
Spacelab
Ätherwellen
Tango
The Man-Machine
Electric Café
Autobahn
Computer Liebe
Das Model
Neonlicht
Metropolis
Merry Christmas Mr. Lawrence (Ryūichi Sakamoto cover)
Geigerzähler
Radioaktivität
Vitamin
Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2
La Forme
Trans-Europa Express / Metall auf Metall / Abzug
Planet der Visionen
Boing Boom Tschak / Techno Pop / Musique Non Stop
Encore:
Die Roboter
















