Als Sänger hat man eine besondere Verantwortung. Denn mit der Stimme kann man sich nicht unsichtbar machen. Sie ist präsent, Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ein Instrument, das direkt auf die Persönlichkeit verweist. Und außerdem produziert die Sprache Bedeutung. Jeder Text ist ein Anker, nahezu jede Aussage reicht über die Musik hinaus. Wer singt, muss daher vieles bedenken. „Eine Stimme kommt immer sehr direkt aus der Musik“, erzählt Andreas Schaerer, der im Mai auch beim Jazzfest Bonn erwartet wird.
Schaerer weiter: „Es gibt die Tendenz, dass Stimme, weil sie präsenter ist, einfacher zwischen Zuhörer und Musik vermitteln kann. Ich habe mich bewusst damit beschäftigt, wie ich mit der Stimme Musik oder ein Instrument begleiten kann. Es ist weniger schwer, begleitende Pattern zu finden, als zu erreichen, dass die Stimme sich nicht dauernd in den Vordergrund drängt. Selbst wenn du ganz leise Dinge machst, sie kommt einfach raus. Will man diese „traditionelle“ Rolle als Sänger erweitern, muss man das sehr bewusst gestalten.“
Sänger aus Leidenschaft
Die Schlagworte sind gefallen. Es geht um Präsenz, Vermittlung, Gestaltung. Denn der Schweizer Andreas Schaerer ist Sänger aus Leidenschaft. Wenn er singt, dann ist der ganze Körper Instrument, elastisch und tänzerisch. Er schlüpft in die Musik, nimmt Rollen ein, die sich aus den Klängen ergeben. Das ist ein ungewöhnliches Konzept und es weitet sich noch, wenn Andreas Schaerer auf Partner wie den Schlagzeuger Lucas Niggli, den Gitarristen Kalle Kalima und den Akkordeonisten Luciano Biondini trifft. Dann entsteht ein Quartett, das es schafft, Unterschiede produktiv zu verknüpfen: „Die Band gibt es seit 2016. Der Nukleus war das damals bereits bestehende Duo mit Lucas Niggli. Wir konnten uns nicht entscheiden, ob wir auf Dauer eher in eine elektronische oder in eine akustische Richtung gehen wollten. Geplant waren zwei Trios. Mit Kalle loteten wir die eine Richtung aus, mit Luciano die andere. Die Energie unter uns vieren war aber auf Anhieb so einmalig, dass ein Quartett daraus geworden ist. Und alle spielen wir auch sonst zusammen, also Duos in verschiedenen Kombinationen“.
„A Novel Of Anomaly“ erschien 2018
Diese besondere Chemie führt auch zu einem eigenen Tempo. Das erste Album des Quartetts „A Novel Of Anomaly“ erschien 2018, der Albumtitel wurde gleichzeitig zum Bandnamen. Danach folgten über einhundert Konzerte, aber auch reichlich andere Projekte, die wie „Hildegard lernt fliegen“, „Out Of Land“, „The Big Wig“ oder „Evolution“ ihre Zeit beanspruchen. Das Ensemble „A Novel Of Anomaly“ hat sich daher sechs Jahre Raum gegeben, um mit „Anthem For No Man’s Land“ an die ersten Experimente anzuknüpfen.
Und die Musik wurde einerseits größer, andererseits offener. Denn Andreas Schaerer zieht sich weiter aus der ersten Reihe zurück, hinein in das Kollektive. Er verlässt die Sprache als Bedeutung, ohne auf den dramaturgischen Reiz des Gesprochenen zu verzichten. Was er singt, klingt bekannt, ist aber erfunden. Es weckt Assoziationen, sorgt so souverän für Sprachstimmungen, dass man beim beiläufigen Hören Englisch, Spanisch, Griechisch, Italienisch zu entdecken meint.
Das ist kein Witz, sondern eine Philosophie und hat auch gesellschaftliche Aspekte: „Die Schnittstelle zwischen Sprache, Musik und Klang ist schon besonders spannend. Es hat mich schon immer interessiert, mit diesem Bruch zu spielen, wo sich Inhalt auflöst und Sprache nur noch Klang ist, trotzdem aber noch genug sprachliche DNA hat, um weiterhin als solche verstanden zu werden. Das ist fließend, ein spielerischer Ort. Auch Kinder sprechen ja viele Phantasiesprachen. Und bei diesem Album habe ich viel in diese Richtung überlegt. Einige Stücke funktionieren gut ganz ohne, andere aber wieder verlangen nach einer Sprache. Ich habe zuerst mit imaginärem Englisch oder Italienisch experimentiert, wo ich nur die Klangtemperaturen verwendet habe. Denn mir war schnell klar, dass „Anthem For No Man’s Land“ eine freiere Sprache nutzen muss, die keiner Nation angehören. Es sind alles Worte, die es nicht gibt. Wenn man sie googelt, gibt es keine Treffer oder es kommt: ‚Meinten Sie …?‘“
Zwischen Prog Rock und Tango
Dazu passt die Musik. Alle Beteiligten lassen ihre Vorlieben ineinandergreifen. Mal klingt „Anthem For No Man’s Land“ nach Prog Rock und dem psychedelischen Sound der Siebziger. Mal schwelgen die Klänge in der Italianita oder haben Tango-Elemente. Man findet Einflüsse westafrikanischer Rhythmen, alpenländischer Melodien. Kammerjazz mündet in eine raffinierte Form von Dada, die Vielfalt der Klänge und Motive passt zu den Bildern, die die imaginären Sprachen hervorrufen: „Ich finde den Titel „Anthem For No Man’s Land eine“ schöne Idee, eine Hymne für ein Niemandsland oder ein Jedermenschensland“. Musik, die mehr kann, als beim Naheliegenden zu bleiben. Das passt zu dieser Band.