An drei ausverkauften Abenden in der Philharmonie Paris/Cité de la Musique präsentiert John Cale eine „Futurespective“ seines Werkes. Seine Songs „2019-1964“ sind nicht nur eine Gesamtschau des Avantgarde-Rockers. Jeder Abend ist eine Art Performance, ein live aufgeführtes Kunstwerk aus Musik, Sounds und visuellen Effekten. Der 77-Jährige zeigt uns, was für ein kreativer Kopf er immer noch ist und wie seine Songs im 21. Jahrhundert klingen müssen. Ich ärgere mich eigentlich nur über eins: Dass ich nicht an allen drei Abenden dabei bin.
Von Dylan Cem Akalin
Auf der Leinwand hinter der Band zittern schwarz-weiße Linien wie abstrakte Grenzen, die mal unbestimmt, mal deutlich ihren Auftrag erfüllen. Dazu streicht Joey Maramba mit dem Bogen sphärisch-rätselhafte Klänge aus seinem E-Bass, ferne Posaunenklänge wehen aus dem Dunkel. Schon mit dem Opener, dem Nico-Song „Frozen Warnings“, trifft John Cale mitten ins Herz. Zu schön, zu schrecklich, zum Weinen. Nicos Song über ihre Träume und Erinnerungen an ihre Kindheit, die sie an einer Eisenbahnstrecke verbrachte, auf der Juden in Waggons transportiert wurden. In ihrer Autobiografie beschrieb sie, dass die Menschen sie durch die Bretter anlächelten: „Into numberless reflections/Rises a smile from your eyes into mine/Frozen warnings close to mine/Close to the frozen borderline…“ Und Cales Stimme ist immer noch präsent, kräftig und eindringlich wie die eines Mannes, der unbeugsam im Sturm steht.
„Dying on the Vine“ hatte dagegen etwas von einer Zirkusnummer, jedenfalls rhythmisch gesehen. Der Song lässt die Grenzen von Realität, Träumen und Gedanken verschwimmen. Dustin Boyer spielt sein erstes Gitarrensolo, ein holpriger Gleitflug, der immer wieder Eleganz aufblitzen lässt. Über „Guts“ lässt die Videokünstlerin Abby Portner Clownsmasken auf der Leinwand zerfließen, während die Gitarre mit schrägen Tönen die Luft zersägt. Schreiend und kreischend setzt das Instrument mit einer Mischung aus Slide und aggressiv gezogenen Saiten ein Zeichen in der ruhigen Grundstimmung, und der Bass kommt unglaublich fett, als Cale „Cable Hogue“ anstimmt und dazu selbst die Rhythmusgitarre spielt.
Wie Wasserfarbe im Regen
Mit hämmernden Klavierakkorden leitet Cale „I’m Waiting for the Man“ (The Velvet Underground) ein. Farbblitze, rastlos. Der Text wird mehr gesprochen als gesungen, die Drums von Deantoni Parks bleiben stringent im stampfenden Rhythmus, während Cales Gesang psychedelische Elektro-Sounds umschwirren. Die Farben im Hintergrund rasen immer wilder über die Leinwand, während sich die Akkorde wie Wasserfarbe im Regen auflösen.
Musik voller Dissonanzen und Krach und Texte, die düster und makaber sind, das verband Cale einst mit Lou Reed bei Velvet Underground, der eine ähnliche literarische Sensibilität und eine gewisse Antihaltung gegenüber dem Rock’n’Roll hatte. In Zusammenarbeit mit Velvet Underground entstanden 1967 Songs, die in Klang und Inhalt gleichermaßen erstaunlich waren: Es ging um Heroinsucht, um Sadomasochismus, Cales elektrische Viola kreischte zu packenden Gitarrenfeedbacks. Für das Debütalbum der Velvets erstellte Andy Warhol das Album-Cover und brachte noch die deutsche Chanteuse Nico dazu. Das Album wurde ein kommerzieller Flop, wurde aber in den nächsten Jahrzehnten zu einer Art Bannerträger für den Punk, Hardrock, Art-Rock, Indie-Rock und vieles mehr.
Cales Vertonung des Dylan Thomas-Klassikers „Do Not Go Gentle Into That Good Night“ habe ich noch nie so großartig gehört wie an diesem Abend. Er hat ihn schon solo am Flügel und mit orchestraler Begleitung aufgeführt, aber heute hat der Song eine sanfte Tiefe, als habe der reife, alte Mann sich mit dem Tod versöhnt. Der Song folgt zwar immer noch nicht diesem fließenden Metrum, wie es Thomas seinem Gedicht gegeben hatte, aber die Worte sind wie entfesselt. Ich hoffe, die Konzerte werden aufgezeichnet und irgendwann auch veröffentlicht. Dieser Song ist so brillant, weil er Dichtkunst, Avantgarde und Leben perfekt verbindet.
Eine emotionale Erfahrung
Tatsächlich hat John Cale zuvor einer französischen Zeitung verraten, dass jede der drei Konzert-Nächte anders sein und für ihn „eine emotionale Erfahrung“ sein werde. Unter dem Titel „2019-1964: Futurespective“ ist Cale schon im vergangenen Jahr auf Tour gewesen – es ist für ihn eine Art Zeitmaschine, um zu erkunden, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. „Es ist wirklich eine Reise, auf der Leute Elemente aus verschiedenen Perioden meiner Karriere aufgreifen können. Die Kombination von alten und neuen Liedern sollte etwas Interessantes hervorbringen“, sagte er. „Die Avantgarde lässt dich nie im Stich. Es gibt immer etwas, das dein Denken anregt.“
Die Beatles als Avantgardisten könnten so klingen wie bei „Jack The Ripper at the Moulin Rouge“. Witzige Schattenspiele mit blauen, weißen und roten Bubbles begleiten das Stück, zu dem Boyer auf der Gitarre Töne spielt, die auch von einer Violine kommen könnten. Brummen, metallisches Sägen und Glocken kündigen „Style It Takes“ vom Album „Songs for Drella“ (Lou Reed / John Cale) an. Der Song hat nichts von Nostalgie, die Melancholie verschwindet in einem Rausch aus Traumsequenzen. Der Bass begleitet mit wilden Läufen in extrem hohen Lagen den ruhigen Gesang, der am Ende ordentlich Hall und Echo bekommt, so dass er noch mehr wie aus einem Opiumdelirium geboren erscheint.
Die Geigen bei „Magritte“ bleiben nicht lange allein. Der Song hat stark surreale Momente, wenn die unterschiedlichen Gitarren-Sounds von Boyer und Gastkünstlerin Cate Le Bon wie in verschiedene Einzelteile zu zerfallen scheinen. Sehr schräge Akkorde begleiten die posaunenartigen Linien Boyers. Dieses Stück vermittelt eine unglaubliche Intimität zwischen den Musikern auf der Bühne. Sie scheinen ganz bei sich zu sein, während Cale bisweilen im Gesang versunken scheint. Die zuvor zerfallenen Einzelteile der Klänge kreisen wie Monde um einen Planeten, die Musik als Trancezustand – und der Zuschauer spürt den Augenblick, als alles plötzlich einen Sinn ergibt.
Song für Lou
„If You Were Still Around“ hatte John Cale ursprünglich mit dem Dramatiker Sam Shepard zusammen für sein 1982 erschienenes Album „Music for a New Society“ geschrieben. Ein Jahr nach dem Tod seines Bandkollegen von The Velvet Underground, Lou Reed, veröffentlichte Cale 2014 eine neue Version dieses Songs. Wir sehen an diesem Abend im Hintergrund das Video von Abigail Portner, das dazu entworfen wurde und Cale mit Fotos von Reed und anderen bereits verstorbenen Künstlern zeigt, die mit Velvet Underground und The Factory in Verbindung standen: Sterling Morrison, Nico, Andy Warhol, Edie Sedgwick. Ein bewegender Moment.
Das brüchige „Hedda Gabler“ beginnt mit einer Art Melotron. Alles sehr sparsam instrumentiert. Im Hintergrund Bilder von Gräbern, der Bass durchdringt unsere Körper. Da bringt „Mary“ (Shifty Adventures in Nookie Wood, 2016) eine wunderschöne Wende. Der Song, der sich gegen Homophobie wendet, ist eine fast tänzelnde Ballade, zu der die Zeitlupenaufnahmen von Bauchtänzerinnen in Reminiszenz an einen Marx Brothers Film richtig gut passen.
Sehr rockig und geradezu King Crimson-mäßig geht es zu bei „Rosegarden Funeral of Sores“. Die rhythmische Gleichförmigkeit bricht Cale am Ende auf, indem er das Thema von „Tubular Bells“ seines Landsmanns Mike Oldfield einbaut.
Zum Walzer „Ghost Story“ tänzelt Bassist Joey Maramba vergnügt, während uns das überdimensionale maskenhaft geschminkte Gesicht einer Frau von der Leinwand anschaut. So leichtfüßig das alles klingt, so bedrückend wirkt der ganze Song.
„Paris 1919“
Und dann erklingt „Paris 1919“! Den Song hat Cale in den vergangenen 20 Jahren meines Wissens heute zum zweiten Mal gesungen. Ich liebe das Stück aus klassischen Momenten, Rock, Pop und der nostalgischen Rückbesinnung auf die Kunst der Surrealisten. Am Schluss steigert sich die Dramatik und löst sich in wildem Ausdruck auf. Klasse! Das Publikum tobt.
Rausch, Jazz, Avantgarde, Rock, entfernt asiatisch klingende Drums. Sehr bewegt geht es bei „Villa Albani“ zu. Robert Fripp würde diese abgefahrene Version, zu der Dustin Boyer allerlei rätselhafte Sounds aus seiner Gitarre zaubert, lieben. Und sicher auch das letzte Stück des Abends. „Ship of Fools“ (Fear, 1983) klingt sehr nach dem späten Peter Gabriel. Cale ist wieder an der Gitarre, im Hintergrund frösteln grünliche, gläserne Waben auf der Leinwand. Der Song hat an diesem Abend einen eindeutigen Psychedelic-Folk-Rock-Geschmack. Einfach großartig. Nach 1:47 ist der Abend vorbei. Keine Zugabe, obwohl viele Fans immer noch im Saal verharren, während schon die Lichter angehen. Schade.
Setlist des ersten Abends:
Frozen Warnings (Nico cover)
Dying on the Vine
Guts
Cable Hogue
I’m Waiting for the Man (The Velvet Underground)
Do Not Go Gentle Into That Good Night
Jack the Ripper
Style It Takes
Magritte
If You Were Still Around (Solo)
Hedda Gabler
Mary
Rosegarden Funeral of Sores
Ghost Story
Paris 1919
Villa Albani
Ship of Fools
Setlist des zweiten Abends:
Gravel Drive
Buffalo Ballet
Empty Bottles
Mr. Wilson
Hanky Panky Nohow
Darling I Need You
Amsterdam
Thoughtless Kind
Big White Cloud
Gideon’s Bible
Helen of Troy
Heartbreak Hotel (Elvis Presley cover)
Dead or Alive
Gun / Pablo Picasso / Mary Lou
Encore:
Half Past France
Setlist des dritten Abends:
E Is Missing
The Philosopher
Leaving It Up to You
(I Keep A) Close Watch
Story of Blood
Fear Is a Man’s Best Friend
Hallelujah (Leonard Cohen cover)
Riverbank
Secret Corrida
The Endless Plain of Fortune
Wasteland
You Know More Than I Know
Satellite Walk
Letter From Abroad
Femme Fatale (The Velvet Underground song)
Encore:
Emily