Der deutsche Jazzpianist Joachim Kühn hat für sich den Sinn des Lebens gefunden. Es ist die Musik, die ihn in Trance versetzt
Er trägt Schwarz. Wie immer. Nach seinem furiosen Auftritt in der Alten Kirche des Collegium Leoninum in der vergangenen Woche sitzen wir in Leo’s Bistro. Joachim Kühn entscheidet sich für einen Spätburgunder von der Ahr. Zunächst steht er noch unter der Anspannung seines Konzertes und klopft nachdenklich einen Rhythmus auf den Tisch. Doch schon bald erzählt der Echo-Preisträger des vergangenen Jahres ganz entspannt und voller Witz von seinem Leben, wie er erstmals den Trompeter Don Cherry in Paris trifft oder wie sich Miles Davis einmal bei einem Festival mit der gesamten Gage verdrückt, von Ornette Coleman, der ihn nach New York holt. Kühn, der für sein aktuelles Album „Lifeline“, für das er gemeinsam mit seinem Bruder, dem Klarinettisten Rolf Kühn, den Kritikerpreis erhielt, ist ein Ausnahmemusiker und Jazzpianist von internationalem Rang. Über sein Lebens- und Musikkonzept sprach er mit Cem Akalin.
J&R: Welche Drogen muss man nehmen, umso spielen zu können ?
Joachim Kühn: (lacht) Ich gebe zu: Ich habe vorher zwei Glas Wein getrunken. Ich mache ja nichts anderes, mein ganzes Leben nichts anderes als Musik.
J&R: Sie machen einen unglaublich ausgeglichenen und glücklichen Eindruck.Macht Ihre Musik glücklich ?
Kühn: Ich bin 68 und habe jetzt kapiert, wie das Leben funktioniert. Vielleicht auch schon mit 50.
J&R: Vorher nicht ?
Kühn: Na ja, vorher muss man das Leben kennenlernen. Ich hatte ja auch private Schwierigkeiten. Es ging hoch und runter. Es ist ja auch nicht ganz einfach als Jazz-Musiker, besonders in Deutschland.
J&R: Kommen Sie! Sie sind doch anerkannt ohne Ende, gelten als der europäische Jazzpianist schlechthin.
Kühn: Das habe ich mir hart erkämpfen müssen.
J&R: Wenn ein Musiker, wie der Saxophonist, Komponist und Wegbereiter des Free Jazz, Ornette Coleman, sich darum reißt, mit Ihnen spielen zu können, das ist schon eine Auszeichnung.
Kühn: Ich habe viele Auszeichnungen von Musikern bekommen: Joe Henderson, Archie Shepp, Don Cherry, Slide Hampton, Phil Woods…Mit Archie Shepp habe ich letztes Jahr ein Duett aufgenommen. Schon gehört ?
J&R: „Wo!man“. Da sind ein paar Standards und Ornette Coleman- Kompositionen drauf.
Kühn: Ja, ja, ich habe die Anerkennung von Kollegen, aber…
J&R: Ist das ein Grund, warum Sie vor ein paar Jahren nach Ibiza gezogen sind ?
Kühn: Ich bin nach Ibiza gegangen, weil vormir kein Jazzmusiker dort zumLeben hingezogen ist.
J&R: Mit Ibiza verbinde ich auch keinen Jazz.
Kühn: Stimmt. Ibiza ist auch die absolute Anti-Jazz-Insel. Auch wenn es dort mittlerweile ein Jazzfestival gibt.
J&R: Mit Jazz verbinde ich Urbanität.
Kühn Mit Urbanität ?
J&R: Ja, Jazz ist städtisch, Jazz ist Asphalt, Pflaster, Gassen und Straßen…
Kühn: Der Jazz ist doch in mir. Na ja, ich habe ja auch fast 15 Jahre in Paris gelebt, Kalifornien, New York. Mit 50 dachte ich, da war ich in Paris, und ich hatte auch eine schwierige Beziehung, da dachte ich: Ich muss da abhauen. Ich hatte die Möglichkeit, dieses Haus auf Ibiza zu kaufen. Zufälligerweise hatte ich auch das Geld dafür, und das muss man als Jazzmusiker erst mal erreichen.
J&R: Und der Flügel steht mit Blick aufs Meer ?
Kühn: Ja, klar.
J&R: Hat das Ihre Musik verändert ?
Kühn: Es findet immer eine Entwicklung statt, und ich hoffe, dass die bis zu meinem Lebensende anhält.
J&R: Sie sagten: Jazz ist in mir. Was heißt das ?
Kühn: Jazz ist eine Lebenseinstellung. Jazz ist mein Leben. Ich nehme keine Partyeinladungen an, und die Freunde, die ich habe, kann ich an einer Hand ablesen.
J&R: Ihre Musik wird immer introvertierter, immer individueller.
Kühn: Ja, das finde ich gut. Sie soll mehr Ich sein. Als ich die sechs Jahre mit Ornette Coleman gespielt habe, haben wir für jedes Konzert zwölf Stunden am Tag geprobt. Wir haben übrigens alles aufgenommen. Ich habe allein 500 Stunden Musikaufnahmen nur mit Ornette Coleman zu Hause.
J&R: Sie sind beide freiheitsliebend. Und das funktionierte ?
Kühn: Natürlich. Er schrieb die Stücke, hat mir aber die Freiheit für Improvisationen gelassen.
J&R: Geben Sie im Zusammenspiel nicht Freiheit ab? Sie müssen sich ja auf Ihr Gegenüber einstellen.
Kühn: Nein, überhaupt nicht. Schon seit DDR-Zeiten stand ich auf Colemans Stil.
J&R: Sie haben auch Ihren eigenen Stil und Ihre eigene Improvisationstechnik entwickelt. Sie nennen sie „The Diminished Augmented System“.
Kühn: Alles, was mir in der klassischen Musik nicht gefallen hat, also die Gesetze, habe ich für mich gestrichen. Das System ist eine Vereinfachung des Harmonieschemas, in dem es keine Dur- oder Moll-Akkorde mehr gibt.
J&R: Ganz ohne kommen Sie auch nicht aus. Das haben wir heute Abend gehört.
Kühn: Das heißt aber nicht, dass ich etwa in C-Dur spielen muss. Ich schreibe nicht in Tonarten. Wo die Musik hingeht, das ist offen.
J&R: Sie lieben jedenfalls die übermäßigen und verminderten Akkorde. Oft ist es so, dass vier übermäßigen, drei verminderte folgen.
Kühn: Richtig. Die verminderten sind besser als moll, und die übermäßigen klingen für mich besser als Dur.
J&R: Diese Akkorde klingen immer so, als würden Sie anfangen, etwas zu erzählen. Sie sind offen wie unvollständige Sätze.
Kühn Wir haben zwölf Tonarten. Wenn ich sage „vermindert“, gibt es nur noch drei: c – cis – d, es ist schonwieder dasselbe wie cis und die gleiche Tonart. Das ist ein ganz simples System. Wenn ich komponiere, denke ich in Klängen.
J&R: Wie entsteht das Programm für einen Solo- Abend wie jetzt beim Jazzfest Bonn? Ohne Mitmusiker müssen Sie sich jedenfalls auf niemanden einstellen. Nehmen Sie Rücksicht aufs Publikum?
Kühn: So wenig wie möglich. Hm, was ist Rücksicht? Rücksicht habe ich nicht in meinem Wortschatz. Das ist ein typisch deutscher Ausdruck, den ich überhaupt nicht mag.
J&R: Sie fordern doch etwas vom Publikum ein.
Kühn Wieso?Ich spiele das, was ich weiß.
J&R: Das Publikum muss sich schon einlassen auf Ihre Musik.
Kühn Wenn es mir persönlich gut gefällt, wenn ich weiß, dass ich gut gespielt hab‘, dann hoffe ich, dass das Publikum das nachvollziehen kann.
J&R: Haben Sie ein Konzept für einen Konzertabend ?
Kühn: Ein ungefähres, ja. Ich spiele aber immer was anderes. Es geht mir ja nicht drum, einfach einen Job zu machen.
J&R: Wie bereiten Sie sich vor ?
Kühn: Ich mache mir Gedanken, wie ich das Konzert aufbaue. In Bonn zum Beispiel kam mir die Idee, das erste Stück mit dem Bach anzufangen. Das habe ich vorher noch nie gemacht.
J&R: Hat aber funktioniert.
Kühn: Ja, und so kommt immer wieder etwas Neues heraus. Ich nehme das ziemlich ernst, jedes Konzert.
J&R: Sie spielen sich regelrecht in einen Rausch!
Kühn: Das ist ganz wichtig. Ich muss mich am Anfang einspielen, so dass ich in Trance komme.
GA Was bedeutet Ihnen das Spiel mit Ihrem Bruder, dem Klarinettisten Rolf Kühn ?
Kühn: Sehr viel.
J&R: Ich habe den Eindruck, dass Sie beide sehr unterschiedliche Typen sind, auch wenn Sie musikalisch gut korrespondieren.
Kühn: Persönlich sind wir uns gar nicht ähnlich.
J&R: Ist Ihr Bruder auch so ein Freigeist wie Sie ?
Kühn: Auf andere Art. Er gehört noch zu der Generation, die dachte, man braucht auch noch andere Jobs. Mein Bruder hat ja auch als Dirigent bei Musicals gearbeitet und Filmmusikern geschrieben.
J&R: Ergänzen Sie sich musikalisch ?
Kühn: Die Klarinette gehört eigentlich nicht zu meinen Lieblingsinstrumenten. Aber wenn er spielt, dann hat er einen Sound…boa!
J&R: Letztes Jahr sind Sie beide mit dem Echo Jazz ausgezeichnet worden, Ihr neues Album „Lifeline“ klingt wie eine Klammer zu Ihrer legendären Platte „Impressions Of New York“ von 1967, das Sie mit dem Coltrane-Bassisten Jimmy Garrison und dem italienischen Schlagzeuger Aldo Romano aufgenommen haben. Ist das so und nicht anders gewollt?
Kühn: „Impressions“ ist ein Hammeralbum, oder? Ein Trip! Wir spielten in Newport, und nach unserem Auftritt kam Coltranes Produzent in unsere Garderobe und sagte: „Wollt Ihr nicht eine Platte für Impulse aufnehmen?“
J&R: Das legendäre Label!
Kühn: Ich war 23! Das war ein Traum!
J&R: Das ganze Albumsteht doch unter dem Einfluss von John Coltrane, oder ?
Kühn: Natürlich. John Coltrane war der größte Musiker, den es je gegeben hat. Coltrane war der Johann Sebastian Bach des Jazz und Miles Davis war der Mozart. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht John Coltrane höre.
J&R: Haben Sie Coltrane mal getroffen?
Kühn: Nach unserem Auftritt in Newport gab uns Jimmy Garrison Coltranes Telefonnummer in New York. Als wir anriefen, sagte uns seine Frau Alice, ihr Mann fühle sich nicht sehr wohl und habe sich hingelegt. Wir sollten es ein paar Tage später nochmal versuchen. Doch da war er tot. Rolf und ich waren bei der Trauerfeier in der St. Peter’s Church in New York. Die ging drei, vier Stunden.
J&R: Nochmal: Was ist Jazz ?
Kühn: Das ist eine wichtige Frage. Das ist noch nicht zu Ende definiert. Jazz ist für mich ein Lebensstil. Ich behaupte, wenn man im Leben frei ist, wenn man keine Verpflichtungen hat, wenn man nicht im täglichen kreativen Prozess gestört wird, dann kann man improvisieren. Und improvisieren heißt, Dinge zu spielen, die noch nie gespielt wurden. Was heute als Jazz bezeichnet wird, da ist zu viel Kalkuliertes dabei, das ist nicht improvisiert. Ich lege großen Wert auf die Improvisation.
J&R: Das birgt auch Risiken.
Kühn: Natürlich! Aber ohne geht’s nicht. Ich habe mich mit dem Risiko angefreundet. Ich fahre nur auf Risiko.
J&R: Das ist ein hoher Grad an Freiheit.
Kühn…die ich brauche.
J&R: Sind Sie gläubig?
Kühn: Ich bin Atheist. Ich brauche keine Religion. Ich hab den Sinn des Lebens gefunden.
Zur Person:
Joachim Kühn wurde am15.März 1944 in Leipzig geboren. 1966 siedelte er nach Westdeutschland über.
1968 zog Kühn nach Paris, wo er mit stilistisch unterschiedlich orientierten Musikern wie Gato Barbieri, Don Cherry, Slide Hampton und Phil Woods zusammenarbeitete.
Anfang der siebziger Jahre begann eine intensive Beschäftigung mit elektrischen Keyboards. Parallel zur Mitwirkung in Gruppenwie der Jean-Luc Ponty Experience und Association P.C.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre tauchte Kühn in die amerikanisch Fusion-Szene ein, wo man ihn im Kreise von Musikern wie Alphonse Mouzon, Billy Cobham, Eddie Gomez und Michael Brecker hörte.
Mit seinem Bruder Rolf (Klarinette) erhielt er den Jazz-Echo-Preis 2011 für ihr Lebenswerk.
Ornette Coleman über Joachim Kühn: „Wenn er schwarz und Amerikaner wäre, wäre er erfolgreicher und bekannter als Keith Jarrett.“
Aktuelles Album: „Lifeline“ (mit Rolf Kühn). Als sein „Meisterwerk“ bezeichnet er die 6-CD-Box „Soundtime“ (erschienen bei Jazzwerkstatt, 59,99 Euro). Sechs CDs Solopiano, die er innerhalb von fünf Jahren vor allem bei dem Maler Robert Arató auf Ibiza eingespielt hat – Aufnahmen von unglaublicher Intensität.