Eines vorweg: Christopher Dell beim Spiel seines Vibraphons zu beobachten, ist schon ein Erlebnis für sich. Der Mann in dem zugeknöpften grauen Anzug und der strengen Physiklehrer-Hornbrille biegt, windet und dreht sich. Er bewegt sich federt wie ein tanzendes Fragezeichen vor seinem Instrument, wedelt bisweilen mit den Klöppeln durch die Luft bevor er einen wohlbedachten Schlag auf eines oder mehrere Metallplatten seines Instruments setzt. Ein Abend beim Jazzfest Bonn im Pantheon Theater.
Von Dylan Cem Akalin
Christopher Dell (Vibraphon) zeigt mit Christian Lillinger (Schlagzeug) und Jonas Westergaard (Kontrabass) sowie ihrem Gast, dem wunderbaren Pianisten Bob Degen, wie sich Wege der experimentellen Musik mit jenen der neuen klassischen Musik und denen des Modern Jazz kreuzen können. Das Quartett zeigt sich dabei so einfallsreich wie intelligent. Die Ebenen, die die Musiker auf konzentrierte Weise auf der Bühne des Pantheon Theaters beim Jazzfest Bonn erschaffen, offenbaren Einflüsse von Komponisten wie Morton Feldman, Steve Reich oder Pierre Boulez. Das gilt ganz besonders für die Klang- und Geräuschecollage am Ende des einstündigen Sets „Skizzen“.
Das Ensemble startet mit einer 13-minütigen Neukomposition, in der die einzelnen Instrumente bisweilen wie unterschiedliche Farben ineinander zu verlaufen scheinen, wobei das Schlagzeug noch den widerspenstigen Part übernimmt und die klaren Klänge des Vibraphons wie aus der Vogelperspektive darüber zu schweben scheinen.
Es gehe ihnen um die Sprengung der Formen, gibt Dell zu. Was er damit meint, das zeigten sie mit einer 17-minütigen Suite, die als Hommage an das Album „Third Stream Music“ vom Modern Jazz Quartet gedacht ist. Das MJQ um den Vibraphonisten Milt Jackson wollte mit ihrem Album 1960 einen dritten Strom zwischen Jazz und klassischer Musik erschaffen – mit einem coolen Swing, elegantem Combo-Klassik-Jazz und geradliniger Kammermusik. Dell und seine Mannen hielten sich an diese Mischung sequenzierter Songs, bei der jeder Song andere Motive durchläuft. Da tauchen tatsächlich melodiöse Figuren aus dem Bebop auf, fast bluesige Sätze, immer abgesetzt von kurzen Solos der einzelnen Instrumente, die mit ihrer freien Aufsässigkeit im krassen Widerspruch zur harmonischen Ensemblearbeit stehen, dazwischen versöhnt Degen mit einem wunderschönen Pianoeinsatz. Am Ende der Suite fallen alle Instrumente wie ein Kartenhaus zusammen. Das Feinsinnige an dem Werk ist die Übernahme der Idee der Vorbilder. Das MJQ schufen mysteriöse Melodien und Motive, die den Zuhören wie ein Irrlicht durch einen verwunschenen Wald durch das Album führen. Und das machen auch Dell, Lillinger, Westergaard und Degen einfach umwerfend. Es ist toll, dass das Konzert aufgezeichnet wurde. Beim wiederholten Hören wird man sicher immer wieder neue Motive entdecken.
Auch das dritte Stück ist eine merkwürdige Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Dialogs. Was Dell und Lillinger da zu Beginn machen, ist ein Zwiegespräch der verschrobenen Art. Selbst als die Drums einsetzen, bleibt das Vibraphon eine leichte Spur zurück. Lillinger begeistert hier durch sagenhaft präzises Beckenspiel und peitscht seine Mitspieler durch effektvolle knallige Schläge auf der Snare.
Für diese Combo hat Jazz kaum noch Grenzen, es geht den Musikern um neue Formen der Interaktion, nicht unbedingt um den „dritten Strom“, wie es das MJQ versuchte, sondern darum, überhaupt jedes Fahrwasser zu überwinden, um hinter die verborgenen Möglichkeiten zu schauen. Das, was die einzelnen Musiker mit ihren unterschiedlichen Temperamenten aus ihren ganz eigenen Blickwinkeln entdecken, fügen sie zu einem neuen Bild zusammen. Darin kann Altbekanntes vorkommen, aber die Truppe ist auf dem Weg in eine neue Dimension, und so besteht dieses Abbild aus einer anderen Materie – und erscheint damit als neuer Körper. Atemberaubend.