Von Dylan Cem Akalin
Dem skandinavischen Jazz ist der Abend im Pantheon beim Jazzfest Bonn 2024 gewidmet. Der norwegische Jazzpianist und Komponist Helge Lien gilt längst als Koryphäe der zeitgenössischen Jazzszene in seinem Land. Und Viktoria Tolstoy, die schwedische Jazzsängerin mit russischen Wurzeln, ist eine faszinierende Kraft Szene. Mit einer Stimme, die mühelos Emotionen und Genres durchquert, fesselt sie am Freitagabend das Publikum mit ihren gefühlvollen Interpretationen und ihrer tadellosen Technik.
Ein kurzer Exkurs an dieser Stelle sei mir erlaubt. Einmal muss ich wieder einmal feststellen, was für mit welcher leichtfüßigen Sicherheit diese Jazzsängerin ihr Instrument beherrschen – wie eigentlich alle Vokalisten dieses Genres, die ich bislang erlebt habe. Hingegen habe ich schon so manche Rock- und Pop-Größe ziemlich wanken sehen.
Die zweite Randbemerkung betrifft das ansonsten wirklich tolle Bonner Jazzfestpublikum: Ich frage mich nicht zum ersten Mal, was in Leuten vorgeht, die sich mit verschränkten Armen in die erste Reihe setzen und nicht ein einziges Mal klatschen? Fehlt ihnen die Empathie, was sowas für die Künstler auf der Bühne bedeutet? Wie auch immer: Es war ein wunderbarer Abend, unterhaltsam und anregend.
Man kann nicht über Tolstoy sprechen, ohne ihre bemerkenswerte Abstammung zu erwähnen; sie ist die Ururenkelin des berühmten russischen Autors Leo Tolstoy. Sie hat jedoch ihren eigenen Weg im Bereich der Musik beschritten und sich als eigenständige Künstlerin etabliert. Tolstoy führt äußerst liebenswert durch den Abend – nicht ohne zu erwähnen, dass Schlagzeuger Rasmus Kihlberg nicht nur ein musikalischer Partner, sondern seit gut 30 Jahren auch ihr Ehemann ist.
„Stealing Moments“
Die meisten Stücke des Abends sind von ihrem aktuellen Album „Stealing Moments“. Beim Opener „Love Song“ hatte ich indes schon den Eindruck, dass die Künstlerin ihre Stimme etwas schon. Der Gesang ist ein wenig zurückhaltend, auch wenn der Call-and-Response-Part mit dem wunderbaren Gitarristen Krister Jonsson schon eine erste Marke setzt. Auch bei „What Should I Do“ spürt man die angezogene Handbremse.
Dennoch: Tolstoys stimmliche Fähigkeiten sind einfach beispiellos. Ihre Stimme besitzt eine reiche, samtige Textur, die sowohl kraftvoll als auch emotional ist. Ob sie eine ergreifende Ballade vorträgt oder eine Neuinterpretation etwa von Eric Claptons „Change The World“ – sie verleiht jedem Song ihr eigenes einzigartiges Flair von Authentizität und Tiefe.
In „Summerbreeze“ steckt diese Aufrichtigkeit und Verletzlichkeit, das lichte Klangbild, das den skandinavischen Jazz aus auszeichnet. Der Instrumentalteil mit dem elektronischen Chaos, das sich über dem soliden Schlagwerk aufbaut sowie den beiden Soli von Jonsson und Pianist Joel Lyssarides setzt einen schönen Kontrapunkt. Es ist toll, wie sich die Gesamtstimmung bei „Synchronicity“ verändert, wie Tolstoy noch eine Note mehr Rauheit in ihre Stimme bringt, das Spiel von Piano und Gitarre am Schluss hat was von Pat Metheny und Lyle Mays.
„Hands Off“
Was Tolstoy bislang ausgezeichnet hat, ist auch ihre Vielseitigkeit als Künstlerin und ihre Bereitschaft, die Grenzen der traditionellen Jazzmusik zu erweitern. Aber auch Wagnisse einzugehen. Mit „Hands Off“ hat sie eine frühe Komposition des leider verstorbenen Pianisten Esbjörn Svensson, der viel für Tolstoy komponiert hatte, ausgewählt, um dazu die Lyrics zu schreiben und die Nummer neu zu interpretieren. Ein sehr schönes intimes Arrangement.
Für mich hätte das Konzert gerne weiter gehen können. Ich hätte mir jedenfalls noch Stücke aus früheren Alben auf der Setlist gewünscht. Etwa von ihrem Debütalbum „My Russian Soul“ (1994), auf dem sie uns eine Mischung aus russischen Volksliedern und Jazzstandards präsentiert. Oder aus „White Russian“ (1997), das einen Wendepunkt in ihrer Karriere markiert und sie beginnt, sich tiefer mit zeitgenössischen Jazz- und Popeinflüssen zu befassen. „Shining On You“ (2006) ist beeindruckend wegen der Zusammenarbeit mit Esbjörn Svensson und dem Esbjörn Svensson Trio (e.s.t.), auf dem sie Jazz, Pop und elektronische Elemente nahtlos miteinander verbindet. Oder „Letters to Herbie“ (2011): In diesem Tributalbum an die Jazzlegende Herbie Hancock interpretiert Tolstoy einige von Hancocks beliebtesten Kompositionen mit ihrer eigenen, einzigartigen Note neu, übrigens unterstützt von Pianist Jacob Karlzon, der auch schon Gast beim Jazzfest Bonn war. Mit anderen Worten: Wir freuen uns auf eine erneute Einladung von Viktoria Tolstoy nach Bonn.
Helge Lien Trio
Seine Musik überschreitet Grenzen und verwebt Elemente des traditionellen Jazz, nordischer Folkmusik und experimenteller Klänge zu einem reichen und fesselnden Klangteppich, der bisweilen, wie beim Opener „Hymne“ wie aus zarten Blüten geknüpft scheint. Sein Spiel wird zudem noch von seinen fantastischen Mitspielern auf ein weiteres Level gehoben: Johannes Eick hat jedenfalls schon mal einen Basssound, für den allein sich der Besuch im Pantheon gelohnt hat (nicht nur wegen des exzellenten Negronis an der Cocktailbar!). Mein Eindruck ist, dass er den Sound des Kontrabasses noch durch elektronische Effekte angereichert hat. Zudem hat er es drauf, wo nötig so poetisch wie nötig und so kraftvoll wie angebracht zu spielen. Und Knut Aalefjær ist ein echter Zauberer am Schlagwerk, wenn er mal ganz sachte die Becken bearbeitet oder kraftvoll den Rhythmus antreibt.
Liens Virtuosität am Klavier ist unverkennbar und zeichnet sich durch seine zarte Berührung, komplexe Phrasierung und bemerkenswerte Improvisationsfähigkeiten aus. Seine Kompositionen spiegeln oft eine tiefe Verbindung zur Natur und den Landschaften seiner Heimat Norwegen wider und rufen ein Gefühl der Ruhe und Introspektion hervor. So wie „Snurt“, eine von skandinavischer Folklore geprägte Nummer mit krummem Rhythmus, experimentellen Ausbrüchen und einem Psychedelic Rock angehauchten Mittelteil. „Gamut Warning“ beginnt er mit dumpfen Sounds, zudem Aalefjær Percussions beisteuert, bis Bass und Drums plötzlich eine Art Rockriff herausschälen, über das Lien ein sehr anmutiges Solo spielt. „Popkoral“ beginnt mit einem wunderschönen Piano-Intro, in das ein melodisches Bassspiel einsteigt.
Bei Stücken wie diesem zeigt sich Liens herausragende Fähigkeit, sein Ensemble mit Finesse zu führen und jedem Musiker reichlich Raum für Ausdruck zu geben, während gleichzeitig ein zusammenhängender und dynamischer Klang erhalten bleibt. Auch bei „Jazzkoral“ und „It Is What It Is“ verbindet das Trio skandinavische Weisen, manchmal fast indigene, erdige mit bisweilen experimentellen Sounds über stets lyrische Fundamente zu einem sehr eigenen Klangbild. Und Lien ist ein brillanter Pianist, der bei all der Komplexität seines Spiels dann auch mal kurz Beethovens „An die Freude“ anspielt. Das Trio ist ein echtes Highlight in diesem Festival.