Am Ende steht wirklich jeder in der Oper Bonn und tanzt. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das mal gegeben hat. Die Stimmung war ja schon beim Auftritt von Manu Katché und seiner Band gut, aber bei der Münchner Jazzrausch Bigband war sie gigantisch. Die schlechte Nachricht: Der abgerockte Opernbau steht leider immer noch.
Von Dylan Cem Akalin
Das Jazzfest Bonn 2019 versetzt sein Publikum am Freitagabend in einen Jazzrausch. Einziges Manko: Bei dieser tanzbaren Musik stören die durchgesessenen Sitze. Mein Sitznachbar, ein aus Köln angereister Jazzfan, ruft geradezu euphorisch: „“Sowas habe ich noch nie gehört. Wahnsinn!“
Tatsächlich: Die Jazzrausch Bigband, Hausband des legendären Münchner Clubs Harry Klein, verbindet Jazz mit Technogrooves, improvisierte Musik mit Loopstrukturen der Electronic Szene. Der Staccato der neun Bläser (Daniel Klingl – Tenor- und Sopransaxophon, Bettina Maier – Tenor- und Sopransaxophon, Moritz Stahl – Tenorsaxophon, Florian Leuschner – Baritonsaxophon, Bassklarinette; Angela Avetisyan – Trompete, Michael Salvermoser – Trompete, Roman Sladek – Posaune, Thorben Schütt – Posaune, Jutta Keeß – Tuba) klingt anorganisch, kalt wie Stahl, die Bass- und Drumbeat mechanisch, der Sprechgesang von Patricia Römer so kühl wie von Astrud Gilberto und Francoise Hardy, und als sich „Dancing Wittgenstein“ zu einer richtigen Dancenummer entwickelt, spielt Bettina Maier ein wildes Solo auf dem Tenorsaxofon. Das Publikum ist sofort gefangen von der Mischung aus kühlen Rhythmen und dem Mix der Stile.
Musikalisches Globalwissen und Mathematik
Der Komponist aller Stücke der Bigband Leonhard Kuhn, der auch für die Electronicsounds zuständig ist, mag ein kühler Mathematiker sein, aber der Mann hat zweifelsohne ein musikalisches Globalwissen, das er geschickt in seine Musik einbaut. „Koroller 3 – Le Système Planétaire“ hat etwas von Kurt Weil im Zukunftsdress. Der Song könnte auch in einer futuristischen Filmszene von „Babylon Berlin“ laufen mit dieser Schnittmenge aus 20er-Jahre-Chanson a la Josefine Baker, Jazz, Rock und Electronic. Und dann liefert Philipp Schiepek noch ein Glanzstück auf der Gitarre ab – nicht das letzte Mal an diesem Abend. Der Musiker hat einen tollen, klaren Sound und einen ebenso beeindruckend feinen Stil.
„Faust 3 – Suche nach Jugend“ ist tatsächlich eine Vertonung des Goethe’schen Dramasstoffes, startet zunächst wie Phil Collins „Mama“ mit einem fulminant freien Solo des Baritonsaxofonisten Florian Leuschner und wird dann zu einer spaßigen Technonummer mit fetten Bässen und knallenden Beats. Richtig klasse: Schlagzeuger Marco Dufner und Bassist Georg Stirnweiß.
Heavy Metal Be-Bop
Richtig funky geht es weiter mit „I Want To Be A Banana“ mit wie eine Brandung auf uns zurollenden Bläsern, dem typischen „N-tsch-N-tsch“-Rhythmus des Techno, aber einer Grundstimmung, die ebenso von den Crusaders sein könnte und dazu ein paar Ausflüge in den „Heavy Metal Be-Bop“ der frühen Brecker Brothers wagt. Es ist 21:39, und die Band spielt seit 42 Minuten, jetzt wagen die ersten, aufzustehen und zu tanzen. Roman Sladek (Posaune und Produzent) führt nicht nur unterhaltsam durch den Abend, er regt das Publikum immer wieder an, sich von ihren Sitzen zu lösen.
„J’arrive“ hat was von Richard Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ mit Techno-Hooklines und psychedelischen Atmosphären. Klasse Solos von Jutta Keeß (Tuba) und Michael Salvermoser (Trompete).
Sensationelle Tuba
„Back Home“ hat viel Pop in sich. Zu schmetternden Bläsersätzen und einem luftigen Rhythmus gibt es wilde Baritonausbrüche und nach einer fürs Klatschen geeigneten Bridge ein funky Gitarrensolo und einen beispiellosen Einsatz der Tuba.
Sensationell: die Wayne Shorter-Komposition „Orbits“ mit viel stampfenden Technobeats, hinreißenden Solos am Sopransaxofon und einem wilden Pianosolo. Der letzte Song „Moebius Strip“ lebt wieder vom coolen Gesang und leichten Soulspritzern im Cocktail. Zur Zugabe gibt’s mit „Punkt und Linie zur Fläche“ eine kleine Hommage an Pink Floyds Meddle-Ära und einem letzten grandiosen Tanz. Das Publikum tobt.