Was für eine Überraschung! Man darf sich von den voreiligen Bewertungen im Internet halt nicht irritieren lassen und sich sein eigenes Urteil bilden. Das neue Album des früheren Porcupine Tree-Frontmanns Steven Wilson „The Future Bites“ ist nämlich viel besser als viele nach den kurzen Einblicken, die im Vorfeld gewährt wurden, unkten. Hier ist eine alternative Kritik.
Von Dylan Cem Akalin
Es ist durchaus richtig, dass sich Steven Wilson mit „The Future Bites“ ein Stück von seinem bislang beschrittenen Weg entfernt. Es ist aber doch künstlerisch legitim, sich Gedanken darüber zu machen, ob die traditionellen und allgemein gewohnten Mittel des Progressive Rock/Rock ausreichen, um im digitalen Zeitalter seine Kreativität und seinen Ausdruck umzusetzen?
Hardcore-Fans mögen durchaus darunter leiden, wenn ihr Idol die ausgetretenen Pfade verlässt und mit Stoffen aus tanzbarem zeitgenössischem Pop und Electronica arbeitet. Aber, Hallo?, ist das jetzt alles tatsächlich leicht zu konsumierender Pop, den uns Wilson da bietet?
Der Opener „Unself“ ist ein rätselhaftes Intro, das die Liebe als Hölle deklariert: „Das Selbst kann nur sich selbst lieben“. Dann geht es in ein Peter-Gabriel-verzerrtes souliges Tanzstück über den Selbstwahn unserer Zeit. Tiefsinnig und verschoben. Und „King Ghost“ packt mit elektronisch durchsetztem Sounds und dem Wechsel von Sprechgesang und säuselndem Refrain und erinnert da entfernt an Radiohead. Wilson ist ein Meister, wenn es darum geht, unbequeme Themen in wunderschöne Melodien zu packen. „12 Things I Forgot“ könnte ein Radiohit sein, wenn es um Songaufbau und den hymnischen akustischen Musikflug angeht. Inhaltlich beschäftigt sich der Protagonist in einer Rückschau mit seinem Leben und dem menschlichen Triebwerk, eigene Vergehen schnell zu verdrängen, aber auch darum, mit fortschreitendem Alter bequem zu werden. Es ist halt leicht, die guten alten Zeiten zu verklären: „Now I just sit in the corner complaining/Making out things were best in the 80s“. Das alles in einem unbeschwerten Songformat zu bringen, ist schon eine herausfordernde Kunst.
Trevor Horn lässt grüßen
Wilson hat immer schon darauf gepocht, dass es das Vorrecht eines Künstlers ist, die Erwartungen des Publikums herauszufordern. Dass das sechste Soloalbum des 51-Jährigen sein bisher am wenigsten gitarrenorientiertes ist, wird für viele eine Herausforderung sein. Wilson philosophiert sowohl textlich als auch musikalisch über Konsumwahn, Internet-Algorithmen und alltägliches Verhalten im Web-Zeitalter. Es geht ihm darum, anzuregen, darüber nachzudenken, wie Technologie und Marketing das moderne Leben verändert haben. Er hinterfragt Nostalgiewellen und den Umgang mit sozialen Medien („Follower“), in der so mancher nicht nur seine Selbstachtung verliert, sondern auch den Respekt vor anderen. Das alles packt er in teilweise eingängige Melodien, die von schrägen Sounds durchbrochen werden. Soundmäßig lässt Trevor Horn und dessen postmoderner elektronischer Pop-Rock-Funk, der bisweilen ganz schön glattpoliert ist, grüßen – doch alles mit Augenzwinkern, Nachdenklichkeit, Intelligenz, Witz und Humor.
Ist das nicht einfach irre, das ausgerechnet Elton John einen stimmlichen Auftritt bei „Personal Shopper“ hat? Zwischen der dunklen Synthie-Pop-Landschaft beginnt Elton John, Dinge aufzuzählen, die man einfach braucht, um sein Leben komplett zu machen: Vulkanascheseife, Diamant-Manschettenknöpfe, Smartwatch, Falsche Wimpern und weiß ich was alles. Diesen Objekten stehen menschliche Parameter wie „Selbstliebe“ gegenüber. Tatsächlich hat die lyrische Komponente von „PERSONAL SHOPPER“ eine tiefe Bedeutung und lässt viel Raum für Interpretationen. Leider beschränkt sich Elton Johns Auftritt auf die unspektakuläre Aufzählung, ich hätte mich über einen Gesangspart gefreut. Wilson selbst erzählt, dass er an ihn gedacht habe, weil Elton John für ihn der berühmteste lebende Käufer der Welt sei. „Also schickte ich ihm den Track über einen gemeinsamen Freund, und Elton rief mich am nächsten Tag von seinem Haus in Antibes aus an und sagte: ‚Ich liebe es!‘ Als großer Fan war ich überwältigt! Er war so damit beschäftigt, dass wir gemeinsam die endgültige Liste erstellt haben. Es hätte nicht angenehmer sein können, mit ihm zu arbeiten.“
„Eminent Sleaze“
„Eminent Sleaze“ spielt mit dem falschen Prunk der Disco-Musik der 70er/80er Jahre, und dann heißt es auch noch so schön: „And my smile, sincerely a lie/I’ve got designs to hypnotise.“ Die metallische Gitarre könnte glatt von Prince sein.
Melancholisch geht es bei „Man of the People“ zu. Das Stück mit dem schwermütigen Ambient-Einschlag ist auf diesem Album wohl noch der typischste Wilson-Song. Die mysteriöse Ballade „Count of Unease“ ist ein genialer Abschluss dieses Werks. Die Zeilen sagen alles: „And did I really care?/Did I believe the words I spoke?/Was I even there?/Did I disappear in smoke?“
Steven Wilson ist ein Musiker, der immer noch etwas zu sagen hat, einer, der wagt, von der Erfolgsspur abzuweichen. Auf „The Future Bites“ überschreitet Steven Wilson seine eigenen Grenzen. Die Songs sind zwar sehr an Elektronik orientiert, atmen aber den Geist von „To The Bone“ und „Hand. Cannot. Erase.“. Streckenweise könnte das Album auch von Robert Fripp produziert sein. Die Frage, ob das noch Prog ist, entbehrt jedem Zweifel, implementiert ist in dem Rock-Stil ja der Prozess, sich fortzuentwickeln. Es gibt zwar keine ausgedehnten Keyboard-Soli, keine ausgewalzten Gitarrenausbrüche. Aber es ist ein Album, das den Zuhörer mit reichhaltigem Hörerlebnis belohnt.