Interview mit Kamasi Washington, der wie keiner die Debatten im Jazz bestimmt hat – auch 2016

Kamasi Washington mit Autor Cem Akalin. FOTO: Peter "Beppo" Szymanski

Kamasi Washington hat mit seinem Debütalbum – der Dreifach-CD/Vinyl-Box „The Epic“ – die Jazzszene erschüttert. Gerade wurde der Saxofonist, geboren 1981 in Los Angeles, wieder mal vom Downbeat-Magazine zum Jazzer des Jahres gekürt. Was steckt hinter der Musik des ungewöhnlichen Musikers? Denn die Jazzgeschichte erfindet er auf dem fast dreistündigen Opus nicht neu – aber er nutzt ihre Kraftquellen für sein Statement, und das mit einer einer Expressivität, die gerade Fans in Europa begeistert. Da vibrieren erdige Orgelsounds, swingen funky arrangierte Standards wie „Cherokee“, brechen Hardbopsoli über bluesige Grundstrukturen, Washington und seine Gang versetzen dem Modal-Jazz harmonische Frischzellenkuren und scheuen auch nicht vor leidenschaftlichen Free-Ausbrüchen zu souligen Popsongs zurück. Die Vielseitigkeit kommt nicht von ungefähr: Der Saxofonist war ab 2005 Solist in der legendären Bigband von Gerald Wilson, spielte aber auch mit Rappern wie Snoop Dogg und Kendrick Lamar. Und die elfköpfigen Band, die  aus lauter Freunden aus der L.A.-Szene stammt, zu der Washington für sein Projekt noch einen 20-köpfigen Chor und ein 32 Musiker umfassendes Orchester verpflichtete, ist nicht nur auf den Aufnahmen eine Offenbarung. (Porträt auch hier) Mit Kamasi Washington sprach Cem Akalin.

Das ist ja ein unglaublicher Aufstieg. Hast du schon realisiert, was da um dich herum geschieht?

Kamasi Washington: Ja, das ist wirklich cool! Wir haben auch unser ganzes Leben an der Musik gearbeitet. Aber die Resonanz ist wirklich unglaublich – weltweit!

Woher kommst du? Wo warst du? Ich meine, man kann lesen, dass du für Steven Ellison alias Flying Lotus, Lauryn Hill, Snoop Dogg und Kendrick Lamar gespielt hast und auch für viele Jazzer wie McCoy Tyner und George Duke, dessen Einfluss man übrigens auch stark hört. Aber wieso hast du deine eigene Kreativität verborgen?

Washington: Oh, das ist schwierig. Wenn du als Musiker für andere arbeitest, nimmt dich das so sehr ein, dass du dich verlierst. Und dann muss du eine Entscheidung fällen, ob du auf deinen eigenen Füßen stehen willst. Weißt du, es ist ja auch irgendwie eine sichere Sache, wenn du für etablierte Musiker spielst. Ich bin Flying Lotus und Brainfeeder…

… dem Independent Label von Flying Lotus…

Washington: … sehr dankbar für die Gelegenheit, mein eigenes Ding zu machen, denn vorher gab es dafür keine offene Tür.

Und dann ist solch eine offene Tür und du bringst solch ein Album heraus. Als ich es zum ersten Mal gehört habe, kamen mir fast die Tränen. Und ich habe intensiv nachgedacht, woher die Faszination kommt. Und ich glaube, es kommt, weil man eine sagenhafte Freiheit heraushört. Es ist Musik von jemandem, der tut, was er will. Und die Musik ist außergewöhnlich organisch. Trotz der vielen Instrumente bildet es eine Einheit, wie du sie kaum bei anderen hörst. Kannst du kurz beschreiben, wie es zu dem Album gekommen ist?

Washington: Die Leute, mit denen ich auf dem Album spiele, kenne ich schon ganz schön lang. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt. Da ist eine andere Art der Verbindung, die zwischen uns herrscht. Das ist etwas, was die Musik ausdehnt. Für mich liegt ja auch eine lange musikalische Reise zurück, auf der ich mit so unterschiedlichen Musikern ganz mannigfaltige Stile gespielt habe. Aber ich habe Musik immer aus dem Herzen gemacht. Es gibt für mich keine andere Motivation.

Hattest du denn diese Musiker schon im Sinn, als du die Stücke geschrieben hast?

Washington: Ja… aber der Punkt ist eher, dass diese Musiker mich ja auch geprägt haben.

Wer denn zum Beispiel?

Washington: Brandon Coleman hat mich zum Beispiel beeinflusst. Ryan Porter, Ronald Bruner… Ihr Stil, die Art wie sie ihr Instrument spielen hat mich beeinflusst, weil wir unser ganzes Leben lang zusammen musizieren und voneinander lernen. Wenn einer eine Platte liebt, dann teilt er das mit den anderen. Es herrscht eine ganz große Harmonie untereinander.

Als ich Euch live auf der Bühne gesehen habe, da spürte man eine große Verbundenheit, ja Intimität zwischen den Musikern. Wie wichtig ist das für dich?

Washington: Ziemlich wichtig. Du musst einen Draht zu den Leuten haben, mit denen du spielst. Und zwischen uns herrscht die beste Verbindung, die ich mir vorstellen kann. Sie ist positiv. Und was du beschreibst, das ist eine Band, die ein Herz und eine Seele sind. Dieses Gemeinschaftsgefühl kommt in unserem Zusammenspiel zum Ausdruck. Und weil ich auf dem College Komposition als Hauptfach gehabt habe, wollte ich auch komponierte Sachen zu unserer Musik hinzufügen, Zugleich wollte ich aber Raum für die Band lassen, um sich einzubringen.

 „The Epic“ sind drei Alben, die mir wie eine Trilogie vorkommen. Sie gehören irgendwie zusammen, aber dennoch scheint es da Unterschiede zu geben. Weiß du was ich meine? Es ist wie ein Roman, der aus drei Teilen besteht und unterschiedliche Spannungsbögen hat.

Washington: Nun, jeder Song ist wie eine Reise. Die Musik schafft Verbindungen zwischen Menschen, und das ist ein Prozess. Das heißt also, wenn wir spielen, dann wollen wir diese Verbindungen schaffen. Wenn es dazu kommt, dann explodiert die Musik regelrecht. Und wenn das geschieht, dann kehren wir wieder um und versuchen es erneut, dass es zu diesen Explosionen komme. (lacht) Es ist also ein Ablauf, den wir immer und immer wiederholen.

Kamasi Washington. FOTO: Peter „Beppo“ Szymanski

Das ist deine Auffassung von Musik, wie sie sein sollte. Aber was war das Konzept für diese „Trilogie“?

Washington: Ganz ehrlich: Alle Musiker, die du gerade auf der Bühne gesehen hast, sind erfahrene Künstler, die selbst Alben gemacht haben. Wir waren also im Studio und haben all diese Stücke aufgenommen. (lacht) Es sollte tatsächlich nur ein einzelnes Album werden, das all die unterschiedlichen Facetten zeigen sollte, aus denen ich bestehe. Es sollte die vielen Aspekte meines Lebens widerspiegeln. Und da hatte ich plötzlich 45 Aufnahmen.

Ach, dann war es gar nicht geplant, ein Dreifachalbum herauszubringen?

Washington: Nein, überhaupt nicht. Ich hatte dann diese 17 Songs, von denen ich dachte, die seien wirklich repräsentativ für das, wofür ich stehe. Aber jedes Mal, wenn ich einen Song rauswarf, hatte ich das Gefühl, dass es nicht komplett war, dass etwas fehlt. Das Album steht für mein Leben: den Anfang, die Mitte und den Zustand, wie ich genau zu diesem Zeitpunkt war.

Du erzählt aber eine Geschichte mit dem Album.

Washington: Ja, das stimmt. Der Plan war, … als wir in der Highschool waren, die Typen von der Band und ich, da hatten wir Träume, wir hatten diese Vision, die Welt zu bereisen, wenn wir unseren Schulabschluss hätten und unsere einzigartige Musik zu spielen. „The Plan“ beschäftigt sich also mit der Musik aus dieser Periode. Es geht um die Grundlagen, weswegen ich Musiker geworden bin.

Das ist also der erste Teil von „The Epic“. Dann gibt es noch “The Glorious Tale” und “The Historic Repetition”.

Washington: “The Glorious Tale” beschäftigt sich mit der Phase, als wir alle aus der Schule raus sind und für andere Musiker gespielt haben. Einerseits wurden wir nervös, weil wir dachten, dass unser Plan nicht aufgehen würde, andererseits hat es uns reifer gemacht, andere Musik zu spielen. Die Stücke sind alle in dieser Zeit entstanden. 2010/2011hatte ich sowas wie eine Offenbarung: Ich musste meine eigene Musik machen. Weißt du, ich bin ein Musiker der zweiten Generation so wie alle Leute in meiner Band. Das heißt, dass wir Musiker sind, die nie etwas geschaffen haben, das dafür steht, wer wir sind. Wir haben unser ganzes Leben damit verbracht, für andere Leute zu spielen. Wir kennen die Geschichte, wir wissen, was vor uns passiert ist, und wir wollen es nicht auf dieselbe Art wiederholen.

Ist es eine Art Deklaration Eures….

Washington: … unseres eigenen Sounds. Ja! Es ist eine Bekanntmachung, wenn du so willst, wer wir sind.

Welche Bedeutung hat denn da noch die Jazztradition in solch einem Konzept?

Washington: Jazztradition bedeutet doch, von den Leuten zu lernen, die vor dir Musik gemacht haben, und es um einen Schritt auf die nächste Stufe zu bringen. Und das wiederum ist eine Repräsentation, wer du bist und wie die Welt ist, in der du gerade lebst. Die Musik von John Coltrane ist eine Stellungnahme über die Welt seiner Zeit.

Es gibt aber jede Menge Berührungspunkte zwischen dir und John Coltrane!

Washington: John Coltrane hatte den größten Einfluss auf das Saxophon, also auch auf mich! Ich habe mich tatsächlich sehr viel mit ihm beschäftigt, habe viel über ihn gelesen. Er ist definitiv mein größter Einfluss. ABER: Ich kann ganz sicher nicht dieselbe Musik machen wie er. Ich habe nicht sein Leben gelebt, habe nicht seine Erfahrungen gemacht. Aber sein Rhythmus, sein Spirit, seine Wertgrundlagen sind für meine Musik ebenso wichtig wie die von Sidney Bechet und Coleman Hawkins es für ihn war.

Würdest du sagen, deine Musik ist Jazz oder eine Art Crossover?

Washington: (Pause) Mhm, weißt du, Jazz ist ein Wort. Unsere Musik hat Elemente aus vielen Quellen und Stilen. Jazz bezeichnet sicherlich den Stil meiner Musik. Aber du kannst auch andere Worte dafür benutzen. Die Musik spricht für sich. Es gibt Elemente des Jazz, des HipHop, von R’n’B. In meinem Herzen ist es Jazz. (lacht) Aber letztlich ist es doch nur ein Wort.

Interessanterweise gibt es sogar eine Adaption eines klassischen Stückes auf dem Album, nämlich Claude Debussys „Clair de Lune“. Wie kam es denn dazu?

Washington: Das geht auf eine Idee von Gerald Wilson zurück. Ich bin mit dieser Musik in Kontakt gekommen, als ich an der Uni Kurse in Musikethnologie und Komposition besucht habe. Debussy, Ravel, Strawinski gehörten zu meinen Lieblingskomponisten. Gerald und ich haben oft darüber geredet. Er sprach davon, wie „soulful“ die französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts waren. Er hat mich dazu gebracht, sie mir anhören. Und tatsächlich haben sie mir neue Perspektiven eröffnet. Geradld meinte zum Beispiel, „Clair de Lune“ würde klingen wie ein langsamer Blues. Da hatte ich die Idee, es aufzunehmen.

Würdest du mir zustimmen, dass „The Epic“ ein politisches Album ist? Da geht es viel um Veränderung, es gibt viele Anspielungen auf die afro-amerikanische Geschichte.

Washington: Ja, klar. Es hat ja etwas mit mir zu tun und dem politischen Klima, mit denen wir es in den USA zu tun haben. Mit den Kontroversen, dass, wenn du so aussiehst wie ich, du in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Bedrohung darstellst. Um es einfach ausdrücken: Mein Leben ist in Gefahr! Einfach nur weil ich so aussehe. Und das sind die Umstände, in denen ich lebe, seit ich ein Kind bin.

Rassismus!

Washington: Seit ich zwölf, dreizehn Jahre alt bin muss ich mit dieser Realität leben. Diese Qualität der Welt, in der ich lebe, hat mich definitiv geprägt und spiegelt sich in meiner Musik wider. Rassismus ist Teil meines Lebens.

Wie konntest du selbst dem Strudel entkommen?

Washington: Weißt du, wenn du in den USA Zeitungen liest oder den Fernseher einschaltest, dann heißt es: Du bist kriminell, drogensüchtig, ein Zuhälter oder eine Nutte. Meine Eltern sind großartig, aber als Kind wollte ich tatsächlich ein Gang-Mitglied oder ein Krimineller werden. Ich habe mich zunächst in diese Richtung entwickelt. Zwei Dinge haben mich gerettet. Ein Cousin gab mir eine Kassette mit Musik von Art Blakey (lacht), und so kam ich zum Jazz. Das Zweite war ein Erziehungsprogramm, das es bei uns in der Grundschule gab, in dem sich junge Leute um uns kümmerten. Eines der ersten Dinge, die sie taten, war, uns die Autobiographie von Malcolm X zu geben. Und die hat mein Selbstbild komplett verändert. Sie hat mir bewusst gemacht, dass diese negativen Images, mit denen du ständig konfrontiert wirst,  nicht real sind, sondern uns aufgepresst werden von Leuten, die sie auf uns projizierten. Das veränderte mein Denken.

Auf „The Epic“ spielst du auch ein Stück des Trompeters Terence Blanchard, „Malcolm’s Song“. Es ist dem dem schwarzen Freiheitskämpfer und Revolutionär Malcolm X gewidmet, der 1965 ermordet wurde. Hat das etwas mit diesen Erinnerungen zu tun?

Washington: Auf jeden Fall!

Was hat das mit deinem Outfit zu tun, so viel afrikanische Klamotten zu tragen? Ist das so eine Art Bekenntnis zum Anderssein?

Washington: Da spielen zwei Dinge eine Rolle. In meinem Verständnis gibt es eine Energie, eine Kraft, die Menschen einen Stoß gibt und ihnen zweigt, woher sie kommen. Ich habe dem nie nachgegeben, ich habe nie darüber nachgedacht, woher meine Kultur kommt. Aber ich liebe mein Kulturerbe, meine Herkunft, ich liebe diese Kleidung. Ich finde sie gut! Ich liebe sie und ich will sie tragen. (lacht)

Was geht in dir vor, wenn du spielst? Du scheinst manchmal so entspannt, ja sanftmütig, dann wirkst du wieder hochkonzentriert, voller Anspannung. Was passiert da mit dir?

Washington: Mhm… Es kommt auf den Zusammenhang an. Manchmal bist du glücklich, manchmal ist es intensiv, manchmal beschäftigt mich einfach etwas, was ich gerade erlebt habe.

Wut?

Washington: Ja, auch Wut. Frustration. Liebe. Alle Emotionen, die man sich vorstellen kann.

Was steckst du eigentlich in deinen Mund, wenn du spielst?

Washington: Ich habe mich mal verletzt, vor sechs Jahren. Fast hätte ich kein Saxophon mehr spielen können. Ich brauche dieses Plättchen in meinem Gaumen, um überhaupt Saxofon spielen zu können.