Jethro Tull´s Martin Barre & Band sind auf Aqualung 50th Anniversary Tour und machen Stopp im Kubana in Siegburg. Das Quartett spielt fast drei Stunden auf der Bühne des Musicclubs – und die Fans sind begeistert.
Von Dylan Cem Akalin
Mutig. Doch das Wagnis hat funktioniert. Das Konzert im Siegburger Kubana ausgerechnet mit dem im Original etwas sperrigen, von vielen Breaks und Windungen durchzogenen Folk-Rock-Song „Hunting Girl“ zu eröffnen, hat etwas verwundert – zumal die prägnanten Querflöten-Passagen nun natürlich fehlten. Aber Martin Barre hat den Song so umarrangiert, dass er auch ohne Ian Anderson funktionierte, besser: ein neues modernes Gewand erhielt. Und das gilt auch für „A New Day Yesterday“ vom Album „Stand Up“ von 1969 – und das erste Album, an dem Martin Barre bis zu ihrer Trennung im Jahr 2012 der Lead-Gitarrist von Jethro Tull war und dort den Sound der Band ebenso prägte wie Ian Andersons Stimme und Flöte.
War Barres Spiel damals etwas vom wilden Psychedelic-Rock der späten 60er geprägt, ist er heute von einem vorwärtstreibenden Hard-Rock geformt. Der Riff-betonte Song ist wie gemacht für die Vorstellung seiner Band, mit der Barre, der im Dezember 75 Jahre alt wird, schon seit einigen Jahren tourt.
Im Zeichen von „Aqualung“
Egal, ob er Hardrock oder ein klassisch inspiriertes, akustisch orientiertes Stück spielte, Barre war bei Jethro Tull ein wichtiger integraler Bestandteil, ein meisterhafter Spieler, der Andersons Songwriting Form und Textur verlieh. Wenn etwas in Ian Anderson’s Jethro Tull, die ich schon einige Male live gesehen habe, fehlt, dann ist es diese von Eleganz geprägte Angriffslust im Gitarrenspiel eines Martin Barre.
Der Abend steht im Zeichen von „Aqualung“, wohl dem erfolgreichsten und bekanntesten Album von Jethro Tull, das vor 50 Jahren erschien. Das Werk spielt die Truppe in seiner Gänze als zweiten Teil des schönen Abends – mit dem Unterschied, dass „Wind up“ nicht die Songfolge abschließt, sondern der Classic-Rock-Hit „Locomotive Breath“.
Mit dem wunderbaren „Back To Steel“, auf dem Barre erstmalig an diesem Abend mit ausgedehnten Soli seine nach wie vor besondere Virtuosität unter Beweis stellt, dem melodischen Instrumental „After You After Me“ und „Lone Wolf“ präsentiert die Band auch Stücke aus der Solo-Karriere Barres.
„A New Day Yesterday“
Die frühen Tull-Stücke wie „A New Day Yesterday“ und „For A Tousend Mothers“ erinnern daran, wie originell diese Band war. Vor allem letzterer Song klingt heute noch so zeitgemäß – und wirklich eigenständig. Barre liefert zum Gesang vom zweiten Gitarristen Dan Crisp sensationelle Gitarreneinschübe. Der Mann mit dem weißen Haar und dem William „Buffalo Bill“ Cody-Bart lässt sich sein Alter wirklich nicht anmerken.
Keine Frage: Barres Gitarrenspiel hat sich weiterentwickelt, und ich habe den Eindruck, dass da Einflüsse von Joe Bonamassa, George Lynch und Steven Wilson durchschienen. Das Ergebnis ist eine Kombination aus Bluesrock-Licks und Heavy-Metal-Schnörkeln, die die Songs für ein modernes Publikum frisch halten.
Crisp übernimmt durchgehend den Gesang, und das macht er wirklich gut. Das Charisma von Ian Anderson hat er nicht. Ist aber wenig schlimm. Er kommt super sympathisch rüber, klingt bei Balladen wie „Wond’ring Aloud“ fast ein wenig wie Cat Stevens. So wie auch auf „Mother Goose“ in einigen Passagen. Hier kommt übrigens das einzige Mal eine Flöte zum Einsatz: die Blockflöte.
Zweitlängstes Mitglied von Jethro Tull
Klar, das allgemeine Bild, das einem bei der britischen Rock-Ikone Jethro Tull in den Sinn kommt, ist Frontmann Ian Anderson, der auf einem Bein steht und Flöte spielt. Anderson war das Gesicht von Tull seit ihrer Gründung im Jahr 1968, aber es wird oft übersehen, dass die Talente der anderen Musiker nicht minder wichtig für den Gesamtsound der Band war. Dies gilt insbesondere für den Gitarristen Martin Barre, das zweitlängste Mitglied der Band und verantwortlich für viele ihrer klassischen Riffs und Licks.
Als Song-Credit taucht nur Anderson auf, weil er die Texte schrieb und die Grundideen für die Songs lieferte. Es heißt, dass es ihn bis heute ärgere, dass er ausgerechnet auf „Aqualung“ keine Flöte spielte. Nach fast 44 Jahren trennten sich Barre und Anderson im Jahr 2012, und während Anderson weiterhin mit Musikern um die Welt tourt, die einem weder namentlich noch visuell in Erinnerung blieben, hat Barre eine herausragende vierköpfige Band zusammengestellt, um Neuinterpretationen der Tull-Songs zu spielen. In Siegburg waren es neben Barre und Crisp, der wunderbare Bassist Alan Thomson und Schlagzeuger Darby Todd, der einen so dynamischen, nie in den Vordergrund spielenden Drumstil hat. Keine Keyboards, keine Flöte, kein ausgefallenes Bühnentheater – nur ein Fan-Abend mit der Gitarre als Hauptdarsteller.
„Locomotive Breath“
Die Songs von Jethro Tulls aus der Zeit, als sich der Blues Rock und Folk Rock mit den frühen Klängen des Prog vermischten erhielten durch neue Bearbeitungen tolle Effekte wie die den Doppelgitarren-Sound. „Nothing Is Easy“ war so ein überraschendes Highlight, bei dem Barre und Crisp Twin-Guitarharmonien spielten, die an Thin Lizzy und Iron Maiden erinnerten.
Die komplette „Aqualung“-Präsentation war umwerfend. „My God“ gefiel mir besonders gut. Die Gitarrensolos auf dem Titelstück, das bis heute zu den besten der Rock-Geschichte gezählt wird, und auf „Hymn 43“ waren einfach sensationell. Jedes Mal nach solch einem wunderbaren Soloeinsatz schaut Barre mit glühendem und zufriedenen Gesicht zu seinen Mitspielern rüber. Und „Locomotive Breath“? Ich kann mich an keine so harte und dynamische Version des Stücks erinnern. Atemberaubend.