Im Interview: Das ungewöhnliche Leben des Charles Bradley

Charles Bradley im Gespräch mit Cem Akalin. FOTOS: HORST MÜLLER

Goldener Overall, den Reißverschluss bis fast zum Bauchnabel geöffnet, an der dicken Silberhalskette hängt die Sonnenbrille. Charles Bradley strahlt wie ein Honigkuchenpferd und kann es kaum fassen, dass sein plötzlicher Ruhm sogar bis nach Europa überschwappt. So gut ging es ihm nicht immer. Im Gegenteil. Charles Bradley hat ein hartes Leben hinter sich, lebte als Tramp zwischen Florida und Alaska, zwischen Kalifornien und New York – immer am Rande der Existenz. Der gelernte Koch, der nach dem Dienst jahrelang als James Brown-Imitator auftrat, gab aber seinen Traum von der eigenen Musikkarriere nie auf. Vor zwei Jahren dann war es soweit: Sein Album „No Time for Dreaming“ (2011) wird in den USA ein Hit, seitdem tritt der 64-jährige Spätkarrierist nur noch vor ausverkauften Hallen auf. Sein neues Album „Victim of Love“ hat das renommierte amerikanische Musikmagazin Rolling Stone schon jetzt zum Album des Jahres erklärt. In seinen Songs, in seiner Stimme schwingt sein Schicksal, seine Verletztheit, sein Herzschmerz mit, aber seine nie versiegte Hoffnung versetzt ihr eine ungeheure Kraft. Mit Charles Bradley sprach Cem Akalin.

 

Charles, kommen Sie aus dem Timetunnel?

Bradley: (lacht) Ich hab schon mein ganzes Leben lang Musik gemacht. Was meinen Sie?

Ich fühlte mich in die 70er Jahre versetzt, als ich Ihr neues Album gehört habe. Das ist Motown pur, das Artwork des Albums könnte komplett aus dem vergangenen Jahrhundert sein.

Bradley: Wirklich?

Na, hören Sie… Das ist doch der Geist der guten alten Soulzeit!

Bradley: Nein, das ist Qualität, und ich singe aus dem Herzen.

Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu dieser Zeit?

Bradley: Das ist doch einfach nur das, was ich fühle.

Wo haben Sie in den 70ern gelebt?

Bradley: Im Staat New York, in einer Stadt namens Wassaic. Ich hab im Metropolitan State Hospital gearbeitet und für mindestens 3500 Menschen gekocht. Jeden Tag! Das war ziemlich deprimierend, weil du dort jeden Tag diese bemitleidenswerten Menschen gesehen hast.

Das war eine Psychiatrische Klinik.

Bradley: Genau, das hat mich stark mitgenommen. Aber da gab es so einen Club in der Stadt, wo es immer Live-Musik gab. Dort bin ich immer hingegangen, um mich abzulenken.

Dabei ging es Ihnen zu dieser Zeit besser, als vorher. Als Teenager lebten Sie auf der Straße.

Bradley: Ja, das stimmt.

 

Wie kam es denn dazu, dass Sie auf der Straße landeten?

Bradley: Ich hab meine Mutter zum ersten Mal gesehen, als ich sieben Jahre alt war. Als ich noch ein Baby war, hatte sie mich meiner Großmutter in Florida übergeben und war nach New York gegangen. Eines Tages stand sie dann in der Tür – und ich versteckte mich unter dem Bett. Meine Großmutter wollte mich ihr aber nicht geben. Sie sagte, hier können die Kinder zur Schule gehen und eine gute Ausbildung bekommen. Eines Tages kam mein älterer Bruder in die Klasse und sagte meiner Lehrerin, unsere Großmutter sei krank und wir müssten schnell nach Hause gehen. Aber wir zogen zum Bahnhof und fuhren nach New York zu unserer Mom. Das lief aber nicht gut. Irgendwann sagte ich mir: Wenn es dir hier so schlecht geht, warum sollst du da noch zu Hause bleiben? Also haute ich ab und lebte fortan auf der Straße.

Wie alt waren Sie da?

Bradley: Noch keine 14. Ich fuhr in der U-Bahn rum, schlief in Kellern, alten Autos und in den Lüftungsschächten, weil es dort schön warm war. Ich wurde immer wieder von der Polizei aufgegriffen, haute ab, fuhr in der U-Bahn. Das ging etwa zwei Jahre so.

Wovon haben Sie gelebt?

Bradley: Ich hatte so einen kleinen Job bei einer Saftfabrik. Die zahlten mir 36 Dollar die Woche. Ich lernte zu überleben. Ich hatte zwei Paar Unterwäsche, das ich abwechselnd in der U-Bahn-Toilette wusch.

Und dann?

Bradley: Ich hörte vom Job Corps. Die haben mir wirklich das Leben gerettet!

Das Job Corps ist ein staatliches Programm, das Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 kostenlose Ausbildungsangebote bietet.

Bradley: Genau. Ich nenne es das Ticket, um von der Straße wegzukommen. Sie geben dir Kleidung, einen Platz zum Schlafen, drei Mahlzeiten am Tag und eben die Ausbildung. Und ich machte die Ausbildung zum Koch.

Können Sie’s noch?

Bradley: Und ob! Ich bin ein Meisterkoch.

Ihre Spezialität?

Bradley: Lasagne und jede Art von Schweinebraten.

Andere Kids in Ihrer Situation geraten auf die schiefe Bahn und werden kriminell.

Bradley: Stimmt, aber ich blieb davon verschont. Wissen Sie, was mich stark bleiben ließ?

Was?

Bradley: Etwas, das meine Großmutter mir einmal sagte. Wissen Sie, ich habe als Kind niemals Rassismus erlebt. Meine Großmutter hat mich vor solchen Situationen bewahrt. Ich kann mich erinnern, dass ich damals die Rassenunruhen im Fernsehen mitbekam und meine Großmutter fragte: Warum kämpfen diese Menschen? Sie hob ein Stück Holzkohle auf und sagte: Weißt du was hiermit geschieht, wenn genügend Druck darauf ausgeübt wird? Es wird zu einem Diamanten. Und genau darum geht es in diesem Kampf. Denke immer daran! Wenn Du großem Druck ausgesetzt wirst, dann wirst du zu einem Diamanten.

Und Sie sind niemals im Knast gelandet?

Bradley: Doch, einmal für 30 Tage. Ich hab damals in Kalifornien in einem Grill gearbeitet. Da war dieser Kunde, dem der Burger nicht geschmeckt hat und auf mich losging. Ein 150-Kilo-Mann, der mich packte und auf den Grill warf. Ich griff nach einem Messer, um mich zu verteidigen und stieß zu. Ich verletzte ihn aber nicht, sondern zerschnitt lediglich seine Klamotten. Er wurde nur noch wütender und schlug mich ins Gesicht. Als die Polizei kam, wurde ich festgenommen und nicht der Typ, der mich angriff. Und dieser Makel lastet immer noch auf mir. Das war 1977! Ich bekam drei Jahre auf Bewährung. Als ich später nach Kanada ging, hat mir das die Einreise erschwert.

Sie haben all die Jahre nie aufgegeben. Was macht Sie so stark?

Bradley: Gott!

Sind Sie gläubig?

Bradley: Ich glaube, dass es etwas Höheres gibt. Und mir ist es egal, wie es die Katholiken, Protestanten oder Juden nennen. Ich weiß nur: Es muss eine höhere Kraft da draußen geben, die alles sieht.

Was ist mit Ihrem Zorn?

Bradley: Das mache ich mit mir selbst aus. Wenn ich wirklich wütend bin, dann gehe ich ans Wasser, an einen Fluss oder ans Meer. Das gibt mir meinen Frieden zurück.

Hatten Sie Helden? Vorbilder?

Bradley: Ich liebte immer James Brown und seine Musik. Aber meine große Heldin, mein einziges Vorbild ist meine Großmutter, die 1957 starb.

Aber James Brown war derjenige, der Sie zum Singen brachte.

Bradley: Richtig. Ich hab immer gern gesungen. Als ich mit meiner Großmutter in die Kirche ging, liebte ich diese Choräle. Aber als ich 1962 ein Konzert von James Brown im Apollo sah, war es um mich geschehen.

Haben Sie jemals mit ihm gesprochen?

Bradley: Das muss 1978 oder 1979 gewesen sein. Ich arbeitete in einem Restaurant in San Fransisco, dem Hippodrome am Broadway. Ich war Koch, und James Brown trat dort auf. Ich wollte ihn unbedingt Backstage treffen, aber er sagte nein, nein. Also wartete ich am Bühneneingang auf ihn und sprach ihn an, als er dort ein paar Minuten auf seinen Auftritt wartete. Er war ein netter Kerl. Er hatte eine etwas raue Art, aber er war nett. Ich fragte ihn, ob ich nicht kurz mit ihm auftreten könnte. Er lehnte es ab und gab mir en Rat, nach New York zurückzugehen und dort mein Glück zu versuchen.

Ihr erstes Album „No Time for Dreaming“ von 2011 war rauer als das aktuelle und voller autobiografischer Songtexte. Sie singen „Warum ist alles so hart?“, erzählen von Ihrem Leben, auf „The World (Is Going up in Flames)“ heißt es: „Warum hörte mich niemand weinen?“ Vieles klingt sehr verzweifelt.

Bradley: Das ist wahr. Ich weinte vor der ganzen Welt und betete mein ganzes Leben lang für eine Chance.

Hatten Sie wegen Ihres Schicksals Ihren Glauben verloren?

Bradley: Das erste Album zeigt tatsächlich meine rohe, dunkele Seite. Das alles, worüber ich singe, ist wahr. Deswegen konnte ich überhaupt das Herz dafür haben, diese Songs zu schreiben. Es ist ja auch hart für mich, sie zu singen. Denn wenn ich sie singe, dann sehe ich all diese Bilder aus meinem Leben vor mir. Bei einem meiner ersten Konzerte wurde ich gebeten „Heartaches and Pain“ zu singen, aber ich konnte es einfach nicht.

Ich das nicht der Song über Ihren Bruder?

Bradley: Es handelt von seinem Tod, es handelt davon wie er erschossen wurde. Er kam damals bei mir vorbei und wollte in dieser Nacht mit mir sprechen. Aber ich sagte, lass uns morgen reden. Er sagte: Du bist mein Herz, von all meinen Brüdern und Schwestern bist du mein einziges Herz. Ich sagte, Joe, was ist los mit dir? Weil er anfing zu weinen. Ich sagte ihm, dass ich ihn auch liebte und ging dann zu Bett. In der Nacht kam meine Mutter ins Zimmer und sagte, die ganze Straße sei voller Polizei. Als ich runterlief, um nachzusehen, was los sei, da bekam ich diesen unglaublichen Stich ins Herz. Ich sah, dass die Polizei aus dem Haus meines Bruders kam mit der Frau meines Bruders, Clarisse. Sie sagte, dein Bruder ist erschossen worden. Ich war wie von Sinnen.

Wenn die erste CD ein Winteralbum war, dann ist die neue ein Sommeralbum. Geht’s aufwärts mit ihnen?

Bradley: Auf jeden Fall. Es tut so gut, mit meinem Publikum zu reden. So viele Menschen danken mir, dass ich mein Herz geöffnet habe und es mit ihnen teile.

Was haben Sie mit dem ersten Geld gemacht, das Sie als erfolgreicher Sänger verdient haben?

Bradley: Ich habe ja im Keller von dem Haus gewohnt, in dem meine Mutter lebt. Das ist in den Sozialwohnhäusern in Brooklyn. Und wenn es regnete, dann floss das ganze Wasser in meine Matratze. Der Keller war immer so muffig von der Feuchtigkeit. Mit dem ersten Geld habe ich den Keller renovieren lassen.

Wir haben so viel über Ihr Leben gesprochen. Was ist mit Liebe?

Bradley: Liebe ist etwas, vor dem ich sehr viel Angst habe.

Warum?

Bradley: Weil ich weiß, wie sensibel ich bin, und möchte nicht meine Probleme, meine Verbrennungen, die Bilder in meinem Kopf einem anderen Menschen zumuten.

Da gibt es aber jede Menge Liebeslieder auf dem neuen Album… Sind Sie ein „Opfer der Liebe“, wie ein Song heißt?

Bradley: Ja, ich liebe diesen Song. Sie auch?

Ein echter Ohrwurm. Dennoch…

Bradley: Mein Publikum hat mir so viel gegeben. Jetzt will ich erst einmal meinen Fans etwas von der Liebe zurückgeben.

Also gibt es zurzeit keine Lady in Ihrem Leben?

Bradley: Die einzige Lady in meinem Leben ist meine Mom.