Von Anthony DeCurtis
Im Jahr 1982 erschien in der Los Angeles Times ein Interview mit Brian Eno, in dessen Verlauf der britische Musiker und Produzent der Journalistin Kristine McKenna davon erzählte, wie Lou Reed ihm gegenüber gesagt habe, „dass sich das erste Album von Velvet Underground in den ersten fünf Jahren 30.000 Mal verkauft hat… und weißt du, das war so ein unglaublich wichtiges Album für so viele Leute! Ich gehe davon aus, dass sämtliche Käuferinnen und Käufer, die eine von diesen 30.000 Kopien besitzen, später selbst eine Band gegründet haben!“
Enos Anekdote dürfte inzwischen zu den bekanntesten und scharfsinnigsten Beobachtungen in der Geschichte der Rockmusik zählen, denn auch wenn er – oder genau genommen Reed – sich auf eine mindestens unpräzise Datenlage bezieht, ist die Essenz dieses Kommentars doch absolut zutreffend. Tatsächlich verrät ein Blick auf die Zahlen, dass The Velvet Underground & Nico allein in den ersten zwei Jahren nach der Veröffentlichung im Jahr 1967 immerhin gut 60.000 Mal über den Tresen ging. Nur bedeutet auch diese Zahl: Es war kein Blockbuster – und alle Mitwirkenden waren dementsprechend enttäuscht über die doch eher überschaubaren Verkaufszahlen. Gerade wenn man bedenkt, wie sehr die Beteiligten auf den Faktor Provokation gesetzt hatten – Andy Warhol hatte etwa Lou Reed dazu gebracht, keines der „dirty words“ aus den Texten zu streichen –, fielen die Reaktionen der Medien überraschend zurückhaltend aus. Die enge Zusammenarbeit mit Warhol sorgte zwar durchaus für Aufmerksamkeit: Dass allein sein Name auf dem Gatefold-Cover der Originaledition zu lesen war – und auch sein „Produzenten“-Credit hintendrauf in derselben Schriftgröße vermerkt war wie der Bandname. Auch das Bananencover mit seinen phallischen Assoziationen, ebenfalls Warhols Kreation, gilt seither als absoluter Designklassiker. Nur wirkte es eben trotzdem so, als wäre das Album erschienen und wenig später wieder von der Bildfläche verschwunden: Ein Phänomen, das die Welt insgesamt eher mit einem Achselzucken quittiert zu haben schien.
Wer sich jedoch wirklich auf die Musik einließ, sich mit ihr auseinandersetzte und sie auf sich wirken ließ, erkannte sofort, dass The Velvet Underground & Nico ein musikalisches Ereignis war – ein Meilenstein. Auch machte sich bereits wenig später der Einfluss dieses Albums auf andere Werke bemerkbar: Es war der Auftakt eines kreativen Infiltrationsprozesses, der bis heute anhält. David Bowie spielte „I’m Waiting For The Man“ schon, als der Longplayer noch gar nicht erschienen war, und auch The Yardbirds, damals noch mit Gitarrist Jimmy Page, nahmen den Song ins eigene Live-Repertoire. Der Beatles-Manager Brian Epstein zeigte sich überaus interessiert an einer Zusammenarbeit, und Mick Jagger verwies auf Velvet Underground als Inspirationsquelle für den Track „Stray Cat Blues“ vom Album Beggars Banquet.
Auch wenn das alles natürlich riesige Namen sind, die sich da vor langer Zeit beeindruckt zeigten, geht der Einfluss von The Velvet Underground & Nico weit darüber hinaus: Die Band hatte die Grenzen dessen, was Rock & Roll sein konnte, was diese Art von Musik zum Ausdruck bringen konnte, mit dieser einen LP komplett neu abgesteckt. Am Tag der Veröffentlichung war das Genre „Alternative Rock“ entstanden, hatten sie die Blaupause für Punk, Grunge und jede andere Art von vertonter Rebellion erschaffen. Vor The Velvet Underground war es vollkommen undenkbar gewesen, keine Hits zu haben – und trotzdem relevant zu sein. Ich meine damit wirklich un-denk-bar, nicht bloß ungewöhnlich oder untypisch: Es war schlicht unmöglich, sich eine derartige Positionierung innerhalb der Musikwelt überhaupt vorzustellen. Es hätte einfach keinen Sinn ergeben. Doch wie Lou Reed danach immer und immer wieder betonen sollte, hatte diese Band es geschafft, dass Rockmusik ab sofort auch für die Nachwelt relevant sein konnte. Es ging nicht mehr bloß um Ruhm und Größe im Jetzt, sondern um etwas Zeitloses – wie man es sonst nur aus anderen Bereichen der Kunst und Hochkultur kannte, etwa von Gedichten und Romanen, aus dem Theater oder der Malerei. The Velvet Underground hätten tatsächlich nur dieses eine Album aufnehmen müssen: Sie wären trotzdem bis heute eine der wichtigsten und einflussreichsten Bands der Rockgeschichte.
Als Beweis dafür reicht ein flüchtiger Blick auf die Tracklist von I’ll Be Your Mirror: A Tribute to the Velvet Underground & Nico, einem packend-zeitgenössischen Blick aufs Debüt der Velvets, auf dem sämtliche Stücke des Erstlings von Vertreter*innen der nachfolgenden Generationen interpretiert wird. Entstanden ist das Album unter Aufsicht von Executive Producer Hal Wilner, Reeds gutem Freund und Produzenten, der im Frühling letzten Jahres ebenfalls verstarb. Streng genommen ist der Begriff „Produzent“ zu schwach für Wilners Herangehensweise, denn er verstand es wie kaum ein Zweiter, die Vision und die Handschrift seiner Künstler zu verstehen und sie herauszuarbeiten. Auch als Meister des Albumtributs hat er wieder und wieder sein tiefes musikalisches Verständnis bewiesen, indem er die jeweiligen Künstlerinnen und Künstler und deren Werk perfekt in Szene gesetzt hat. Im konkreten Fall verstand er sich vor allem als Kurator von Reeds kulturellem Erbe, und man hört in jeder Aufnahme dieses Albums, mit wie viel Feingefühl und welcher Hingabe er das Werk seines Freunds begleitet und fortgeführt hat. Es ist traurig, aber zugleich auch absolut bezeichnend, dass gerade diese musikalische Verneigung seine allerletzte sein sollte.
Originalbesetzung Velvet Underground
Über die Originalbesetzung muss man nicht viele Worte verlieren: Neben Reed zählten John Cale, Sterling Morrison und Maureen Tucker zu The Velvet Underground. Dazu kam Nico, Model und Schauspielerin aus Deutschland, die auf Warhols ausdrücklichen Wunsch auf dem Debüt zu hören war, um der Band einen Hauch von Glamour zu verleihen. Auch wenn es Lou Reed kein bisschen gefiel, dass Nico ihn in gleich drei Fällen als Leadsängerin ersetzen sollte, sorgten die Deutsche und Tucker doch für ein Alleinstellungsmerkmal – schließlich war die Rockwelt damals eine ziemliche Männerdomäne.
Dementsprechend spielt die weibliche Perspektive auch auf I’ll Be Your Mirror eine große Rolle: Von der minimalistischen, maximal geerdeten Interpretation des Titelstücks, die Courtney Barnett aufgenommen hat, bis hin zu St. Vincents eindringlicher Zusammenarbeit mit dem Keyboarder Thomas Bartlett („All Tomorrow’s Parties“, Warhols Lieblingssong der Band), geben auch hier immer wieder Frauen den Ton an. Sharon Van Etten steuert eine hypnotische Interpretation von „Femme Fatale“ bei, das Reed ursprünglich über Warhols Proto-It-Girl Edie Sedgwick geschrieben hatte, wozu Angel Olsen die Backing-Vocals eingesungen hat. Auch queere Perspektiven sind zu hören, wenn King Princess „There She Goes Again“ anstimmt, jene verstörende Ode über Sex und Eifersucht.
Während der avantgardistische Spirit der Velvets immer wieder aufflammt im Verlauf des Albums, schimmern mitunter auch andere Züge durch: Das aufbrausende, gitarrenverstärkte „Run Run Run“ von Kurt Vile & the Violators erinnert einen sofort daran, dass The Velvet Underground manchmal auch eine richtige Rockband sein konnten. Michael Stipe, dessen einstige Band R.E.M. in den Achtzigern eine zentrale Rolle dabei gespielt hat, Reed & Co. wieder aus der Versenkung zu holen, lässt sich von dessen „Sunday Morning“-Originaltext inspirieren – und macht aus dieser schrägen, verstörenden Ballade seinen eigenen, ganz persönlichen Song.
Andrew Bird und Lucius
Andrew Bird und Lucius teilen sich das Mikrofon für eine stürmische Version der S&M-Hymne „Venus In Furs“, und Matt Berninger von The National nimmt erst mal den Druck aus „I’m Waiting For The Man“, was dem Stück einen absolut passenden Beigeschmack von zittriger Junkie-Panik gibt. Schrill und betörend klingt „Heroin“, wenn sich der Schotte Bobby Gillespie (Primal Scream) und Alternative-Rock-Pionier Thurston Moore gemeinsam diesen zeitlosen Schuss setzen. Zum Finale dürfen Fontaines D.C. aus Irland den „Black Angel’s Death Song“ in die Luft jagen, während Iggy Pop und Matt Sweeney den „European Son“ ausnehmen – jenen Song, den Reed seinem literarischen Vorbild und Mentor Delmore Schwartz gewidmet hatte. Poetische Experimente und anarchische Noise-Explosionen, sind es gleich zwei passende Schlusspunkte für dieses Album und diese unvergleichliche Band, die diese Dinge schon vor Jahrzehnten zu Eckpfeilern der eigenen Ästhetik gemacht hat.
Gewiss ist es eine besondere Herausforderung, sich nach so langer Zeit mit The Velvet Underground & Nico zu befassen – auch für die Zuhörer*innen. Dieses eine Album hat die Musikwelt so grundlegend verändert, die Parameter dermaßen auf den Kopf gestellt, dass es quasi unmöglich ist, die Signifikanz, das revolutionäre Potenzial dieses Albums aus dem Stegreif überhaupt zu fassen. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass es nun mal The Velvet Underground waren, die diesen revolutionären Spirit in unser Leben gebracht – und ihn somit zu etwas Alltäglichem gemacht haben. Gerade ein Schulterschluss von so vielen unterschiedlichen und einzigartigen Künstlerinnen und Künstlern, wie er auf diesem (Tribute-)Album zu finden ist, unterstreicht noch einmal das gewaltige Erbe von The Velvet Underground. Sie alle hatten Carte blanche: Es stand ihnen frei, ihren persönlichen Lieblingssong der Velvets in ein originalgetreues Cover zu überführen oder die Band auf ganz eigene, absolut zeitgenösische Art neu zu denken – oder irgendwas dazwischen. Sämtliche Künstler*innen haben dabei die eine zentrale Lektion beherzt, für die der Name The Velvet Underground bis heute steht: Sie alle haben einfach das gemacht, was ihnen in den Sinn kam – und es auch wirklich so gemeint.