Es ist schon sehr gewagt, ein Jazzfest mit zwei Acts zu starten, deren Bezüge zum Jazz in homöopathischen Dosen zu finden sind. Jazz ist zwar mittlerweile wirklich sehr breit aufgestellt, doch ein gewisser Grad an Freiheit sollte ebenso da sein wie eine starke Betonung auf der Improvisation. Immerhin darf man Florian Weber und dem Dogma Chamber Orchestra attestieren, dass sie komplexe Harmonien verwenden. Und The KBCS, die Thomas D (Fantastische Vier) begleiteten, stehen zumindest mit einem Fuß im Jazz. Dennoch: Das Konzept von Festivalmacher Peter Materna ging am Montagabend in der Oper Bonn auf. Weber und das Streichorchester verblüffen ebenso mit komplexen Klangkörpern wie sie das Publikum mit ungewöhnlichen Bearbeitungen von Werken des Barockmeisters Johann Sebastian Bach zu Bravo-Rufen hinreißen. Thomas D & The KBCS sorgten zwar für eine Massenflucht vor allem des älteren Publikums, dafür feierten die anderen sie umso mehr.
Wie würde Bach heute klingen?
Das prägnante Thema des Brandenburgischen Konzerts Nr. 3 ist erst gegen Ende wahrzunehmen und da auch eher wie eine aufgeräumte Bearbeitung durch Mozart. Wie würde Bach heute klingen? Das sei der Ausgangspunkt des Jazzpianisten Florian Weber und seinem Freund, Mikhail Gurewitsch, Violinist und künstlerischer Leiter des Dogma Chamber Orchestra, gewesen. Kennengelernt haben sich die beiden ausgerechnet über ihre Leidenschaft für Led Zeppelin. Die Wildheit des Rock lässt Gurewitsch erst am Ende des Konzerts bei einem Solo zu einer Bearbeitung der Violin Partita No.2 raus. Das Publikum, so Weber, werde Zeuge der „Geburt einer neuen Musik“ werden.
Das erste Stück darf durchaus als Herantasten an die Aufgabe gewertet werden. Dafür gab es für die Bearbeitung des d-Moll den wohl stärksten Applaus des Abends. Zu Recht. Bachs Klavierkonzert erscheint ja recht flott, auch wenn der Grundcharakter insgesamt dunkel-leidenschaftlich ist. Diese beiden Pole haben Weber und das Orchester großartig gelöst. Über den markanten Bratschen im Intro segeln die Violinen zunächst leichtfüßig daher bis Weber ein dekonstruiertes, aber äußerst flottes Solo spielt. Die dann einsetzenden dramatischen Streicher treiben ihn dann regelrecht vor sich her. Das Stück kommt eher wie ein Soundtrack zu einem britischen Thriller daher, das Orchester präsentiert sich als raffinierten Klangkörper, der die unterschiedlichen Ausdruckscharaktere seiner 16 Mitglieder wie Schichten eines imaginären Gebildes aufbaut.
Eine Art Profanierung des Agnus Dei
Das Agnus Dei aus der h-Moll-Messe beginnt mit kratzenden und dumpfen Klängen aus dem Flügel, mit Trommeln auf dem Holz, mit angeschlagenen Saiten, die wie Kirchenglocken klingen, als dann zaghaft und etwas schräg die Violinen einsetzen, als würden sie mit tapsenden Schritten durch einen Dom laufen. Die chromatisch absteigenden Halbtonschritte des Klaviers zu den Cellisten, die mit den Bögen gegen die Saiten schlagen, was sich wie Regentropfen auf einem Blechdach anhört, erinnert vielleicht ein wenig an die Alt-Arie aus dem Agnus Dei. Das wär’s dann aber auch. Von Erhabenheit, wie vor allem im dramatisch Schluss des Originals keine Spur, eher stellt man sich die Schlussphase als schrägen, langsamen Tanz eines grotesken Maskenballs vor. Es ist eine Art Profanierung des Agnus Dei. Brillant.
Aus drei Sätzen besteht die 22-minütige Neufassung des Doppelkonzerts in d-Moll. Im ersten Satz beeindrucken vor allem die Violinen, die wie ein Bienenschwarm Webers kurzes Klaviersolo begleiten. Höhepunkte sind das Adagio, in dem Querflötistin Anna-Lena Schnabel, sonst als Saxophonistin gerne die Grenzen der Möglichkeiten austestet, eine ungewöhnliche Harmonie mit den Streichern eingeht, und das Duell zwischen ihr und Weber am Ende des Stückes.
„Erbarme Dich“ aus der Matthäus Passion
Bei „Erbarme Dich“ aus der Matthäus Passion erklingen Violinen wie zersplitterndes Glas, während sich das Cembalo ein Thema sucht. Die Passage, bei der Paul Erb auf der Geige das Thema anschneidet und Weber ein schwermütiges Solo spielt, abgelöst vom Cello, ist vielleicht der jazzigste Moment des Abends. Sie könnte auch vom Tingvall Trio gewesen sein.
Sachte schlägt die Violine im Intro zur Partita Nr. 2 d-Moll für Violine solo mit dem Bogen auf die Saiten. Das schnelle Thema, das das Ensemble anstimmt, klingt slawisch. Und als Gurewitsch seine Violine wie eine Ukulele bearbeitet, erst zupft, dann Akkorde anschlägt, dann wie Niccolò Paganini wilde Ausbrüche zelebriert, die bisweilen ins Rockige kippen, da ist vom Original überhaupt nichts mehr zu spüren. Der fulminante Schluss wird vom Publikum ausgelassen gefeiert.
2019 gerät Thomas D an eine Schallplatte der Hamburger Band The KBCS, die als Begleitband von Flo Mega hervorging. Inspiriert von dem lässig-groovenden Jazz-Soul der Band, ist eine musikalisch ansprechende Symbiose mit vielen Bezügen zum Jazz, Funk, entspanntem Psychedelic Jazzrock und elektronisch inspiriertem Fusion. Die Band arbeitet mit viel Hall, Echo und den Sound leicht entrückenden Effekten, sehr entspannt, doch druckvoll und präsent, mit interessanten Rhythmen. Dazu gibt es die „Lieblingstexte“ des in der Eifel lebenden Stuttgarters, der Texte über die Liebe seiner Tochter und vom Loslassen präsentiert, von den Test, die das Leben einem bereithält, über Flüchtende und Vergebung, übers Weitermachen und ehrliche Zuneigung. Dabei geht es einmal sogar fast etwas zappaesk rockig, dann wieder entspannt wie bei den Crusadern zu. So manchem Senior und mancher Seniorin war das wohl zu viel, die Reihen lichten sich, die Fans dagegen feiern die Truppe.