Fröhliche Weihnachten allerseits! Ohne New Model Army kommt keine Festtagsstimmung auf. Jedenfalls gehört der Auftritt der britischen Independent-Band um Justin Sullivan im Palladium Köln schon zum Vorweihnachtsritual vieler Rockfans wie die Kerzen auf dem Adventskranz. Und nach so vielen Jahren, es ist das 18. Weihnachtskonzert, erkennt man doch viele wieder – auch wenn man sie nicht kennt. Und auch diese verrückte Truppe aus England ist wieder da, die, kahlgeschoren und mit nacktem Oberkörper, für mächtig Stimmung im Moshpit-Sektor sorgen. Cheers!
Von Dylan Cem Akalin
Was für eine Stimmung, im Palladium sind gut 4000 Fans, und die ständige Murmelkulisse, die zuvor bei den Bands Gold und Triggerfinger so genervt hat, war mit einem Mal wie weggezaubert, als die Bühne dunkel wurde und weiße Spots wie außerirdische Insekten das Terrain absuchten, im Nebel tauchten dann die Umrisse der Musiker auf – ab da gab es kein Halten mehr. Als der erste Akkord von „Whirlwind“ angeschlagen wird, bewegt sich die Menge wie eine kollektive
organische Masse.
New Model Army erschaffen wieder eine Stimmung, die so sonderbar ist. Die Texte zeugen von hoher poetischer Kraft, oft sind es düstere Szenarien, eisige Himmel, grau und verhangen, Wirbelwinde in der Ferne und „merkwürdige Zungen auf den Luftwellen“, die Welt ist ein Spinnennetz von Straßen, voller Kreuzungen, an denen man scheitert. Und Justin Sullivan wirkt mit seinen wirren grauen Haaren und dem dunklen Outfit immer mehr wie eine Figur aus einem Charles Dickens-Roman. Voller düsterer Facetten.
„Burn The Castle“
Und wenn er „Burn The Castle“ singt, dann wirkt er wirklich wie ein mürrischer Revolutionsführer, dessen Stimme von seinen ewigen Aufrufen rau und kräftig und brüchig geworden ist, aber immer noch voll loderndem Zorn. Es ist die Verbitterung über jene, die mit polierten Rüstungen und goldenen Horden vermeintlich über ihr Volk wachen, aber es aussaugen und die Menschen in ihrem „durch Schulden und Paranoia und Flüssen von Alkohol angeheizten“ Stimmung im Chaos alleine lassen, während sie in den beleuchteten Fenstern der Türmchen oben die Einnahmen für die Nacht zählen. „Der Geruch von Blut und summenden Fliegen/Wie um die Leichen reitet die Gruppe der Zeitungsleute/Die Angst bringen und sie bringen sie gut“. Und dann diese wunderschöne Gitarre von Marshall Gill!
„God was just a lie“
Der Song ist aus dem letzte Album „Winter” von 2016, und es ist ein geniales Album. Die Texte des wunderbaren Sängers und Songwriters Justin Sullivan klingen ja schon immer, als würden sie von einer anderen Zeit handeln, weil er Begrifflichkeiten aus anderen Epochen benutzt und sie mit modernen Ausdrücken vermischt („Drag It Down“: „They proved on television last night that God was just a lie“), und genau das macht sie so bedrückend, weil sie zeigen, dass sich irgendwie nichts ändert – gerade aktuell in einem Europa mit seiner wachsenden Schar von Rechtspopulisten, und dann noch die Turbulenzen rund um den Brexit. „Ich will nicht reden über diesen fucking Brexit. Nur eins: Lasst nicht zu, dass sie uns teilen“, ruft Sullivan den Fans zu.
„Killing heroes, killing magic“
Die Gegenwart ist so trübe und diffus zu packen wie eine Handvoll Sand, weil die Vergangenheit am Boden zerschmettert ist, keine Werte mehr Gültigkeit haben, und “Wir denken, wir sind so klug, Helden zu töten, Magie zu töten“ („Past are shattered on the ground/We think we are so clever killing heroes, killing magic“).
Mal fließen die Akkorde zu punkigen Rhythmen („States Radio“), mal hymnisch in flehender Warnung („Devil“), klagend-weinend („A Liberal Education“) oder rästelhaft („Brother). New Model Army macht eine Musik, die zwischen Verzweiflung und Aufruhr, zwischen Leiden und Lust, zwischen euphorischem Rausch und schmerzhafter Bitternis liegt, sie schmeckt wie blutiger Sand im Mund und süßer Wein.
New Model Army ist eine Band des gegenwärtigen Existenzialismus. Sie haben eine Berufung und sie appellieren an uns. Und es ist Sullivans Fähigkeit zu verdanken, seine Gedanken und Vorstellungen auf solch poetische, politische Weise zu artikulieren, dass die Songs eine so hohe Qualität haben. Und das alles läuft gleichzeitig mit einer ungeheuer glanzvollen musikalischen Klanglandschaft ab. Die Kunst der Truppe ist es dabei, dass sie ihren Sound immer weiter fortentwickelt haben, dass sie heute so zeitgenössisch klingen, kein bisschen rückwärtsgewandt, keine Spur von Retro!
Sieben Zugaben musste die Band geben, nach zwei Stunden verließ die Menge den Saal. Verschwitzt und glücklich.
Setlist:
Whirlwind
Burn the Castle
Drag It Down
Devil
States Radio
A Liberal Education
Brother
Winter
White Coats
These Words
Too Close to the Sun
Guessing
Today Is a Good Day
Autumn
Fate
Green and Grey
Encore:
Drummy B
Island
Get Me Out
Encore 2:
Purity
Stupid Questions
Angry Planet
Encore 3:
Betcha