Von Cem Akalin
Es gibt diese wundervolle kleine Geschichte über den Saxophonisten Lester „Pres“ Young. Er spielte im Herbst 1956 im New Yorker Jazzclub Birdland. Auf der Ecke Broadway und West 49th Street gab es einen legendären Plattenladen, den Colony Record Shop, der leider vor drei Jahren schließen musste, und „Pres“ ging einmal zwischen seinen Sets rüber in den Laden. „Lass mich mal was von meinem Mann hören“, bat er Bob Sherrick, den Verkäufer in dem Shop. „My man“, das war Frank Sinatra. Sherrick legte „When Your Lover Has Gone“ aus dem Album „In The Wee Small Hours“ auf. Jahre später erzählte Sherrick dem Musikkritiker und Autor Will Friedwald, wie Lester Young in seinem Pork-Pie-Hut am Lautsprecher saß, regungslos, und völlig eingetaucht war in den Song. „Er hat nicht richtig geweint, aber er hatte Tränen in den Augen. Er stand auf und murmelte: Mann, ich muss das Stück in meinem nächsten Set einbauen.“
Es ist vielleicht eine dürftige Episode, aber sie ist bezeichnend für den Stellenwert, den Sinatra schon immer unter Jazzmusikern hatte. Frank Sinatra war mehr als nur ein Stern auf dem Bühnenvorhang der Unterhaltungsindustrie. Er war eine Jazz-Ikone mit einer legendären Stimme, eine schillernde Figur auf dem Zeitstrahl des 20. Jahrhunderts. Unvergessen, ein überragender Künstler, vielleicht bis heute der erfolgreichste – und wohl mit rund 1300 Aufnahmen Musiker der produktivste. Am 12. Dezember vor hundert Jahren wurde Francis Albert „Frank“ Sinatra als Sohn italienischer Einwanderer in Hobokon, New Jersey, geboren.
Sinatras Phrasierung war eine eigene Liga, sein Gespür für Tempo, sein Gefühl für jeden Song waren einzigartig. Bei ihm erhielt jede Silbe die Betonung, die sie verdiente, und das mit einer unerschütterlichen Sicherheit. Frank Sinatra wurde nicht umsonst schon früh „The Voice“ genannt. Seine Stimme konnte auf der Spitze einer Stecknadel Stepp tanzen, wie etwa auf „Come Blow Your Horn“, oder weich und zärtlich imaginäre Bilder modellieren wie bei seiner Liebeserklärung an die gerade geborene erste Tochter („Nancy With A Laughing Face“). Sinatra hatte Sex in der Stimme wie wenige, die besonders zum Tragen kam, wenn er erotisch aufgeladene, ja anstößige Songs wie „The Lady Is A Tramp“ sang, er gab der Einsamkeit in der Neuzeit erst eine nocturne Stimme, der Trauer ein gesangliches Gewicht: „I’ll Never Smile Again“, bereits 1940 aufgenommen, wurde so etwas wie die Hymne der Kriegswitwen.
Lester Young war ja nicht der einzige Jazzmusiker, der sich von Sinatra leiten ließ. Sein Credo hieß eh, ein Instrumentalist sollte sein Solo so spielen, als würde er den Text in Musik übersetzen. Der Saxophonist Bob Berg, der Fusion-Gitarrist John Scofield, Monty Alexander oder gar der große Miles Davis waren und sind von Sinatra stark beeinflusst worden. Alexander rät jungen Jazzmusikern heute noch, immer erst Sinatras Version anzuhören, wenn sie einen Standard spielen. Miles Davis spielte in den 50er Jahren auf manchen Stücken die Soli fast Note wie Note so, wie Sinatra sie intonierte. Das ist etwa nachzuhören auf seinen Versionen von „My Funny Valentine“ oder „I Thought About You“.
Miles besuchte damals Anfang der 60er Jahre sogar das Jilly’s, einen Club an der New Yorker 52nd Street, der etwas wie Sinatras Hauptquartier in New York war – nur um Sinatra zu hören und zu treffen. Zu einer Zusammenarbeit ist es aber leider nie gekommen.
Interessanterweise hatte Sinatra seinen Gesangsstil selbst einem Posaunisten abgeguckt. Als er als junger Bursche im Tommy Dorseys Band sang, sei er fasziniert von dem soften und harmonischen Spiel Dorseys gewesen, erzählte Sinatra einmal. Tatsächlich hatte Dorsey eine ungewöhnliche Atemtechnik, die es ihm erlaubte, lange ruhige Linien zu spielen ohne das Mundstück abzusetzen.
Manche Kritiker meinen, dass Frank Sinatra niemals so erfolgreich gewesen wäre, wenn es damals schon das Massenmedium Fernsehen gegeben hätte, als er in der 1930er Jahren seine Karriere im Radio begann. Der spindeldürre Kerl mit den Segelohren gewann die Herzen der Massen eben vor allem mit seinem fabelhaften Gesang. Und Tommy Dorsey, bei dem Sinatra 1940 einstieg, musste manches Male wohl ziemlich die Zähne zusammenbeißen, weil dieser schlaksige Junge bald die Attraktion der Band war und ihm die Show stahl. Noch lange bevor Teenager für die Beatles kreischten, taten sie es nämlich damals schon für Frank Sinatra. Morgens um 4 Uhr standen die Mädchen Schlange vor dem Paramount Theater in New York, um für 35 Cent ein Ticket erwerben zu können.
Der Karriereknick kam nach dem Krieg. Vor allem die Spekulationen um seine Verbindungen zur Mafia, die nie nachgewiesen wurden, seine politische Nähe zu dem Demokraten, die ihm in den 50er Jahren in der McCarthy-Ära vorgeworfen wurde, ließen seinen Stern verblassen. Hinzu kamen seine privaten Probleme. Er ließ sich von seiner ersten Frau Nancy scheiden und heiratete den Hollywoodstar Ava Gardner. Doch die Ehe war ein emotionales Desaster. Die schöne Filmschauspielerin verließ Sinatra bald, was diesen in ein tiefes Loch stürzen ließ. Das Ergebnis seines Leidens ist das wunderschöne Album „In The Wee Small Hours“.
Die Spekulationen um seine Kontakte zur Mafia kochten zum ersten Mal im Februar 1947 hoch, als Sinatra zum Entspannen nach Kuba flog. Dort im berühmten Hotel Nacional wurde er gesehen mit den Fischetti Brüdern und einigen Typen vom Capone Clan. Auch „Lucky“ Charlie Luciano soll dort gesehen worden sein. Er sei ein „Kumpel der Mafia“, schrieb Lee Mortimer, ein bekannter Kolumnist, Radiomoderator und Nightclub-Pruduzent, und behauptete, Sinatra sei mit einem Aktenkoffer mit zwei Millionen Dollar zurückgeflogen.
Sinatra kochte. Sein Freund Humphrey Bogart riet ihm zur Ruhe. Und: Er könne sich nur gegen Zeitungen mit anderen Zeitungen wehren, meinte der Hollywoodstar.
„Natürlich kannte ich ein paar von den Jungs“, sagte Sinatra später, leugnete aber jede Verbindung zum Organisierten Verbrechen. Nicht einmal das FBI, das ihn jahrelang beschattete und eine dicke Akte über ihn anlegte, konnte ihm irgendetwas nachweisen.
Und doch: Für alle Welt war klar, dass es da Verbindungen geben musste. So klar, dass Jahre später bei der Präsidentschaftskandidatur von John F. Kennedy genau diese Verbindungen dem jungen charismatischen Demokraten die nötigen Stimmen bringen sollten. Kennedys Vater Joseph wandte sich in einer entscheidenden Phase des Wahlkampfs an Sinatra, wie später Familienangehörige bestätigten. Sinatra solle doch bitte seine Kontakte zur Mafia nutzen, um sich bei den Gewerkschaften im Osten für Kennedy stark zu machen. Die Gewerkschaften wurden zu weiten Teilen von der italienischen Mafia beherrscht. Und tatsächlich schnitt Kennedy damals in diesen Gebieten überaus gut ab. Zu diesen ganzen Verwicklungen Kennedys, insbesondere sein Verhältnis zu Judith Campbell, die Beziehungen zu Mafiaboss Sam „Momo“ Giancana, gibt es eine ganze Reihe von Veröffentlichungen.
„The Greatest Comeback“ titelte das Magazin Variety, nachdem Sinatra 1954 den Oscar für die beste Nebenrolle in „Verdammt in alle Ewigkeit“ bekam. Auch mit den Plattenverkäufen lief es wieder. Und das blieb so bis zu seinem Tod 1998. „Frank Sinatra“, sagte der Musiker, Arrangeur und Komponist Quincy Jones kürzlich in einem Interview, „war ein echter Mann, deshalb konnte er auch singen wie einer.“ Ja, Sinatra war nicht nur der Inbegriff eines Entertainers. Er hatte Stil. Wenn er, die Zigarette in der Hand, in seinem Maßanzug und dem leicht in den Nacken geschobenen Cavanagh Hut im Studio inmitten des Orchesters stand, um wieder ein Stück aufzunehmen, dann fühlte sich „Ol‘ Blue Eyes“ am wohlsten. Das war wohl auch der Grund, warum sein Abschied 1971 nicht lange währte.
Erst 23 Jahre später, im Dezember 1994, erklärte er seinen endgültigen Rückzug. Kurz vorher hatte er in Atlantic City sein letztes reguläres Konzert gegeben. Die letzte Phase seiner öffentlichen Auftritte waren eher unwürdig. Mehr als ein halbes Dutzend Teleprompter mussten ihm die Songtexte anzeigen. Nach einem zweiten Herzinfarkt starb Frank Sinatra am 14. Mai 1998 im Cedars-Sinai-Krankenhaus von Los Angeles.
Warum die Leute ihn bis heute so lieben? Wahrscheinlich, weil er zeit seines Lebens trotz seines Erfolges irgendwie immer der Durchschnittstyp blieb. Er stand zu seinen Fehlern, war mit einer unfasslichen, ja zeitlosen Stimme gesegnet, die Frauen liebten seinen Charme und dieses leicht verruchte Geheimnisvolle, die Männer bewunderten seinen Stil und sein freies Leben, seine Freunde seine Loyalität. Er galt als großzügig, wild, auch tyrannisch, aber er stand immer zu seinen Freunden. Sammy Davis jr.: „Als er eines Tages den Arm um mich legte und sagte: Du hast einen Freund fürs Leben, wusste ich, er meint es auch so.“
Der rastlose Lebemann veranstaltete mit seinen Kumpels Dean Martin, Sammy Davis und anderen die wildesten und heißesten Partys in Las Vegas. Aber er engagierte sich auch, etwas für Kinder. Dafür reiste er rund um den Globus, auf eigene Kosten, um für Stiftungen Spenden zu sammeln.
Benachteiligungen und die Rassentrennung waren ihm zuwider. Harry Belafonte und Sammy Davis Jr. beschreiben ihn als einen, der die Rassentrennung noch zu Zeiten, als die Bürgerrechtsbewegung noch kaum in die Gänge gekommen war, als „ungehörige Geisteshaltung“ verurteilte.
Als die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) 1967 eine Benefizgala in der Carnegie Hall veranstaltete, war e seine Selbstverständlichkeit, dort aufzutreten. Seine Tochter Nancy erinnert sich, dass er gerade erst mit dem Flugzeug aus dem Ausland in New York gelandet war und er umgehend in die Halle fuhr, um dort „Ole‘ Man River“ zu singen eine der berührendsten Versionen, die es von dem Song gibt. Im Publikum: Martin Luther King, der ganz gerührt gewesen war. „Wir sind einen verdammt langen Weg gegangen, bis wir diese Rassensituation hatten“, sagte Sinatra einmal. „Solange die meisten Weißen erst den Neger, dann den Menschen sehen, sind wir in echten Schwierigkeiten. Ich verstehe nicht, warum wir nicht endlich erwachsen werden können.“
Neuveröffentlichungen zum 100. Geburtstag von Frank Sinatra:
„Sinatra: All Or Nothing At All“, Dokumentation, (DVD, Blu-ray), Universal.
Frank Sinatra: ‘Ultimate Sinatra‘ (vier Cds), Universal.
Andrew Howick: Frank Sinatra – Bilder seines Lebens (Mit Vorwort von Barbara Sinatra) Verlag Knesebeck.
Charles Pignone: Sinatra 100, Das offizielle Buch zum Jubiläum, Edel Books.