Die Einstürzenden Neubauten veröffentlichen ihr erstes reguläres Studioalbum seit zwölf Jahren.
Von Hendrik Otremba
(via another-dimension.net)
Wenn die Einstürzenden Neubauten ein Album machen, das auf eigenen Wegen die Erkundung des Topos „Berlin“ unternimmt, dann ist das keine Nacherzählung des eigenen Sturm und Drang, keine Nostalgie, kein Schwelgen in Erinnerung. Es ist viel mehr die Reise an einen Ort in einer eigenen Zeit: Die Zeit der Einstürzenden Neubauten. Es gibt keine Ruinen, in 40 Jahren nicht, denn der Zustand bleibt gleich, die Häuser fallen in sich zusammen, auf ewig. Da wo ein Mensch ist, ist ein Fall. Dann sieht man mit den Ohren, hört den Staub, schmeckt ihn aus den Trümmern der eigenen Erfahrung steigend auf der äußeren Hirnrinde, sieht: etwas erhebt sich aus dem Dunst, etwas, das durch den Tag knistert und in die Nacht hallt, etwas, das kein Verständnis einfordert, kein Durchdringen benötigt; nein – dessen bloßes Dasein als Gedankending genügt. Es schwebt über der zerfallenden Stadt. Die Gesamtmasse der Stoffe bleibt zu jedem Zeitpunkt erhalten, vor dem Start, nach der Landung, das hat nichts zu bedeuten, ein Leben lang und durch die Aufnahme dieser Stücke weit darüber hinaus.
Alles in Allem. Alles andere wäre ohne Sinn. Alles in Allem heißt auch das Nichts. Nur so kann Bedeutung entstehen, im verschmelzenden Widerspruch. Sandstrahl, Peitschenhieb, innige Umarmung. Etwas platzt ab, etwas bringt den Kitt.
Seit 40 Jahren stürzen sie nun ein, in einer Ausdehnung des Zerfalls, in flackernden Zeitlupenbildern, in schwebenden Trümmerteilen, in gemächlich fliegenden Partikeln, den Staub aushauchend. Dann spucken sie wieder – und es gibt Geschrei.
Wer hätte das gedacht? Schon bei der Geburt der Berliner Gruppe im Jahr 1980 brannte es gleich an allen Enden und Anfängen derart lichterloh, dass es heute überraschen mag, die Neubauten so lebendig und aufgeräumtzu erfahren. Doch darin steckt genaugenommen keine wirkliche Überraschung: Ihre Disziplin, die reflexive Beobachtung des Prozesshaften, das kollektive, dem Experiment verpflichtete Arbeiten, die ungebrochen neugierige Erkundung eigener Textwelten und der konsequent vorherrschende Anspruch, jenseits des Korsetts „Rockmusik“ zu singulären Klanglandschaften zu finden (die im Entstehen stets die gegenwärtige Umwelt integrieren, sie zum Tönen bringen, die Welt auf diese Art dokumentieren), hat das Verhältnis von Band und Zeit zu einem Besonderen gemacht.
Die Einstürzenden Neubauten nämlich scheinen sich immer im Jetzt aufzuhalten.Auch,und so scheint es auf dem vorliegenden Album bisweilen durch, wenn sie sich mit der Vergangenheit beschäftigen (und dabei wie die Zukunft klingen): „Wir hatten tausend Ideen/Und alle waren gut“, singt Blixa Bargeld 2020 im ungewohnt schunkelnden Stück „Am Landwehrkanal“. Man möchte zunächst bestätigen, dann aber korrigieren: Nein, Gegenwart! – die Ideen sind gut, die alten wie die neuen.
Intim und einladend
Doch genau das ist es ja: Selbst in der zeitreisenden Erkundung vergangener Versionen der Stadt Berlin spricht statt Nostalgie und Verklärung das scharfsinnige Bewusstsein fürs Hier und Jetzt. Wie geht sowas?
Kommen wir zunächst zum Wesentlichen: Nach 40 Jahren weltumspannender, wachsender Popularität, kultisch verehrt in ihrer personellen wie gemeinschaftlichen Einzigartigkeit, veröffentlichen Blixa Bargeld, N.U. Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Rudi Moser ihr erstes reguläres Studioalbum seit zwölf Jahren.Es trägt den Titel „Alles in Allem“ und erweist sich trotz der schon im Titel verkündeten Transzendenz greifbar, intim und einladend. Man meint schon im ersten Hördurchgang förmlich, die Topografie der zehn Stücke zu durchwandern. Die Stimmen und Klänge geistern dicht um den Kopfherum, hüllen ein, sind ganz nahbei einem.
Alles in Allem lebt von einer klaren Direktheit, einer Verbindung, die zu entstehen scheint –auch wenn in „Zivilisatorisches Missgeschick“ skandiert wird: „We don’t live here anymore“. Soviel zur Wirkung!
Die Trümmer der Musikindustrie lange hinter sich gelassen, haben die Neubauten sich für Alles in Allem erneut an ihre Fans gewandt: Das dicht beschriebene Archiv und gleichzeitige Supporterforum der Band, die Website neubauten.org, wurde zum Dreh- und Angelpunkt einer Innovation sondergleichen. Eine Fortsetzungsgeschichte: Die Band hatte bereits 2002 unter administrativer und technischer Leitung von Erin Bargeld für ein erstes, nur für Supporter erhältliches Album ein Finanzierungsmodell entwickelt, das sich bewährt hat und ihnen bis heute eine relative Unabhängigkeit erlaubt. Lange vor Radioheads Fan-finanziertem „In Rainbows“ und dem Aufkommen des Begriffs Crowdfunding überhaupt bewiesen hier die Neubauten also auch neben der Musik ihren Vorreiterstatus. Und auch dieses Mal konnten die Unterstützer genau hinschauenund zuhören, kriegten für ihr Geld nicht nur Musik, sondern durften partizipieren: In Webcasts, Fragerunden oder in kreativen Experimenten schauten sie der Band über die Schulter, belohnt durch exklusive Stücke und das Bewusstseins des Dabeiseins, des Möglichmachens, der Nähe, des Teilhabens.
Weltweite Unterstützung druch Fans
So ist in einer parallel erscheinenden limitierten DeluxeBox ein zusätzlicher Tonträger beigelegt mit sieben Stücken, zum Teil alternative Versionen, zum Teil Songs, die nicht aufs Album gekommen sind, weil sie sich nicht einfügten, mehr für sich standen. Darüber zu schreiben, würde einen weiteren Essay benötigen. Hier soll aber etwas über die zehn Stücke des Albums zu lesen sein, die zum Teil ebenfalls eng mit den Supportern verknüpft sind: Für das erste Stück etwa, „Ten Grand Goldie“, rief Blixa live on camera weltweit Unterstützerinnen und Unterstützeran, sprach via Telefon mit Menschen in Norwegen, Italien, den USA: Welches Wort in deiner Sprache gefällt dir ganz besonders? Welchen Satzfetzen hast du zuletzt aus dem Mund eines anderen Menschen aufschnappen können, egal, ob sich der Sinn erschloss oderob die Worteüberhaupt an dich gerichtet waren?
Herausgekommen ist ein Stück, welches das Album epilogisch vorformuliert, dabei Textfragmente Bargelds mit den Antworten der Angerufenen zu einem Narrativ ausbaut. So verbindet sich in „Ten Grand Goldie“ die Reflexion einer Stadt im Wandel auf zauberhafte Weise mit der Fremdeentliehenen Worten. „Harvest“ nennt Bargeld dieses Verfahren, er pflückt sich was zusammen, verarbeitet esweiter.
Das darauffolgende Stück „Am Landwehrkanal“ wurde bereits erwähnt, es erzählt vom Tod Rosa Luxemburgs, der Ermordung im Eden Hotel, der Versenkung ihres Körpers im gerade mal 2 ½ Meter tiefen Landwehrkanal. Schließt das nicht anden Song davor an, begegnet hier nicht die Ikone des Kommunismus dem neoliberalen Patchworkwesen „Ten Grand Goldie“? Der ausgeträumte Traum des Kommunismus stürzt ab in die harte Realitäteines gentrifizierten Friedhofs, der längst kein Abenteuerspielplatz mehr ist. Eine Erzählung entsteht, auch durch den Dialog der Stücke.„Möbliertes Lied“ dann, das von Mai 2019 bis Ende Januar dieses Jahres über mehrere Monate hin entstand, war der erste Song, den die Band für das neue Album aufnahm. Hier reinigt Bargeld alles Gewesene, treibt alte Geister aus, macht die Musik dabei begehbar, betritt sie wie eine Wohnung.
„Welcome Berlin“ wurde verbannt
Die Erschaffung dieses musikalischen Auftakts wurde so zum Eintritt in ein durchweg räumliches Album, wobei das Stückdie Platte jedoch durch die Position an dritter Stelle einer strengeren Konzeptualität entreißt. So wird ganz deutlich erzählt: etwaige Bedeutungen können sich nur im Rückblick auf den Song erschließen, kommen erst später zustande: „Ein großes Bett ist neu bezogen, freischwebend installiert“. So werden die Einstürzenden Neubauten zu den Handlangern einer Idee, die sich selbst ihren Sinn sucht.
Ohnehin (ein kleiner Exkurs): die auf „Alles in Allem“ zu bemerkende Präsenz der Stadt Berlin war kein grundsätzlicher Anspruch, sie ergab sich vielmehr aus einem ganz eigenen (Um)weg: Da war ein für das Album zunächst zentrales Stück namens „Welcome To Berlin“, ein zynischer Rundumschlag in einer bissig-subjektiven Reflexion der Entwicklung der Geburtsstadt Bargelds. Doch das Stück wurde verbannt, wurde auch keine B-Seite einer der vier Singles, die die Supporter exklusiv als Dankeschön bekommen, nein: es verschwand gänzlich. Das Gefühl stimmte nicht. So klaffte in der Platte plötzlich ein großes Loch.
Und wie ein Loch im Boden nur im Gegenteil der Erdmasse existieren kann, entstand das Album und der Bezug zu Berlin erst durch die Abwesenheit dieses Grundsteins, konnte erst durch das Loch seiner Form finden: Berlin als thematischer Gegenstand breitete sich aus, kroch aus dem Loch. Von Song zu Song übertrug sich die Stadt und wurde mit einem Mal ganz anders besungen, nun jenseits des anfänglichen Zynismus‘.
Vielschichtiger: hier schwelgend, dort sehnsüchtig, durchzogen von Visionen, dann voller Abscheu, konkret, subtil –und nie ganz eindeutig. Doch zurück zur Musik: An vierter Stelle folgt „Zivilisatorisches Missgeschick“, ein weiteres Stück, das durch jenes von der Band vor Jahrzehnten entwickelte Kartensystem „Dave“ (benannt nach dem Sprecher des ersten Navigationssystems in Bargelds Auto) entstand: Aus 600 Karten wird per Zufall gezogen, wodurch Anweisungen entstehen, die die Band dann in möglichst freie Assoziationen übersetzen muss. Das führte in diesem Fall zu einem Stück, das als kurzes Intermezzo wie im Halbschlaf neben den anderen Songs steht.
Blixa Bargeld fassungslos
In der Dramaturgie des Albums spielt es trotz der reduzierten Kürze eine große Rolle. Es ist ein Zeichen, vielleicht ein Statement: „Alles in Allem“ schlägtauch diesen Weg ein, verfährt geisterhaft, wirkt beunruhigend. „Taschen“ dann ist in vielerlei Hinsicht interessant: Traditionsgemäß wollte die Band zu Beginn der Aufnahmen Material vom Schrottplatz holen, um neue Klänge zu entwickeln, ein für die Band bisher existentiell notwendiger Schritt. Doch in der neoliberal und bürokratisch durchpflügten Gegenwart des 21. Jahrhunderts blieben diese abenteuerlichen Orte den Klangforschern weitestgehend verschlossen.
Wie vor 40 Jahren musste die Band improvisieren. Blixa Bargeld bemerkt fassungslos: „Die lassen dich nicht mehr auf den Schrottplatz – allein schon versicherungstechnisch.“ Die Neubauten machten wie schon in ihrem Gründungsmythos (1980 nutzen sie Schrott in Ermangelung herkömmlicher Instrumente) aus der Not eine Tugend, arbeiteten an „Alles in Allem“ mit dem, was von der Zivilisation übrigbleiben wird: Müll!
Die titelgebenden Taschen etwa sind jene kastenartigen Reisverschlusstaschen, die oft von flüchtenden Menschen zum Transport ihrer Habseligkeiten genutzt werden. Die Band füllte die Taschen mit Lumpen und nutzte sie zur Perkussion, wodurch eine schmerhafte Beziehung zum Text entstand: „Wir warten / Zwischen uns und dir / Wälzt die Wogen / Ein gefräßiges Ungetüm“.
In Referenz auf Ghayath Almadhouns Gedichtband „Ein Raubtier namens Mittelmeer“ erschließt sich der Kontext des eindringlichen Stücks: Es geht um Flucht, um ein Verlorengehen. Hier zeigt sich auch auf textlicher Ebene eindringlich, wie frei Blixa Bargeld sich zu seinem eigenen Werk verhält: Die Verse legen bisweilen Spuren in die Vergangenheit, knüpfen an (hier konkret: „Ich gehe jetzt“–Perpetuum Mobile 2004), schreiben fort oder verweisen auf etwas noch Kommendes, wie ein Rhizom mäandern sie durch das dichte Textwerk –oder wuchern wie ein Virus.„Seven Screws“, der sechste Song, sorgte in den essayistischen Interpretationen des Supporterforums, die die Songs im Entstehen bereits mithören konnten und dort eifrig die Texte transkribierten (und übersetzten), für Furore: Reflektiert der Autor hier sein Geschlecht, dreht sich der Text um eine ambivalente Sexualität, erleben wir die Offenbarung einer Queerness?
Postmodernes Interpretationsverständnis
Lächelnd schweigt der Verfasser: Blixa Bargeld vertritt ein post-modernes Interpretationsverständnis. Seine Texte stehen in ihrer Bedeutung jedem frei, der sich in sie hineinbegeben will. Für ihn selbst manifestiert sich die Idee des mythologisch geschulten Textes – soviel mag er preisgeben – in einem Wort, das auch keinen weiteren Kommentar mehr benötigt: „Uneindeutig“ – frei übersetzt aus dem Englischen non-binary.
Es folgt ein Höhepunkt des an diesen reichen Albums, der vielleicht auch aufgrund seiner titelgebenden Stellung eine etwas konkretere Erläuterung erlaubt: „Alles in Allem“, die Klimax der Platte, ein zwischen Kurt Weill und dem Sound des Italowestern pendelndes musikalisches Glanzstück, schöpft seinen Text aus dem abblätternden Bodenbelag eines zum Hof gelegenen Außenganges des Tonstudios. Ganz richtig gehört –und der Nachwelt dokumentarisch erhalten: Für den Webcast des Supporterforums schritt Bargeld durch das Stück, lief mit einem Kameramann den Entstehungsort des Textes ab, zeigte auf jene Stellen am Boden, wo wenigstens eine Schicht Belag abgeplatzt war und so ein Bild erschaffen hatte, erläuterte. Und tatsächlich: Dort lauert ein verkürztes Krokodil, hier versucht ein Schwätzer, dem Felsen etwas einzureden, dahinten lacht ein Lichtfraß mit zweitem Gesicht. So kann es gehen, so einfach kann es sein.
Bei „Grazer Damm“ greift Blixa wieder zur Gitarre, jenem Instrument, das der Linkshänder 20 Jahre äußerst eigenwillig als Gründungsmitglied von Nick Cave & The Bad Seeds spielte. Das Lied entstand ohne Klick, alle Bandmitglieder spielten gleichzeitig und erneut auf Grundlage des Kartenspiels Dave. Blixa Bargeld schreitet hier durch einen Traum, der ihn in seine Kindheit führt, welche er im Südwesten der heutigen Hauptstadt Deutschlands verbrachte. Der Grazer Damm ist dabei Heimat einer deutlich erkennbaren Architektur des Nationalsozialismus, was im Text zu einer Vermischung von Traum und Historie führt.
Dokumente der Feldforschung
Auch das darauffolgende „Wedding“ entstand durch Dave, doch hier verließen die Musiker das Studio zunächst: Zu fünf per Zufallsprinzip festgelegten Weddinger Koordinaten pilgerten sie, um vor Ort verschiedene field-recordings aufzunehmen, die dann in das Stück einzogen. Mantrisch und in merkwürdigem Takt singt Bargeld: „Wedding Wedding Wedding / Wedding Ding Ding“ – und wieder vermischen sich die Ebenen des Dokumentierten und des Empfundenen.
Mit dem luziden „Tempelhof“ schließlich endet die Platte, es kristallisiert sich hier eine Stimmung, die schon die Stücke zuvor mitbestimmte und in ihrer Unterschiedlichkeit eine Spur erahnen ließ. In dem sanft schwebenden finalen Stück zeigt sich auch erneut das Prinzip des Lochs „Welcome to Berlin“, aus dem sich die Präsenz der Stadt erst ergab: Bargeld beschrieb im Text zunächst das Pantheon in Rom, das sich dann mit dem lange stillgelegten Flughafengebäude in Berlin verband. So zeigt sich im zart krönenden Abschluss dieser meisterhaften Platte erneut, welch große Kunstwerke entstehen können, wenn die Grenzen des Songwritings durchbrochenwerden.
Alles in Allem ist so gleich in mehrerlei Hinsicht eine Manifestation einer gereiften Einzigartigkeit dieser Ausnahmeband: Musikalisch im eigenen Genre watend, in einer sich selbst gestifteten Kategorie, textlich aus weitreichender Erfahrung schöpfend und doch spontan und unverbraucht, offenbart sich die eingangs erwähnte Gegenwärtigkeit der seit 40 Jahren aktiven Gruppe, während im Hintergrund das Supporterforum unterstreicht, worin die Originalität dieser Musikforschungsreisenden besteht: Die Einstürzenden Neubauten bewegen sich seit 40 Jahren unabhängig, ohne von der Welt abgeschnitten zu sein! Ganz im Gegenteil sind sie: Alles in Allem!