22 Songs und super Show: Peter Gabriel beglückt in Köln

Peter Gabriel in Köln FOTO: Dylan Akalin

Von Dylan C. Akalin

Genesis ist weit weg. Und „Hier kommt die Flut“, den Peter Gabriel am Samstagabend vor 15.000 Fans in der Kölner Lanxess-Arena singt, hat vielleicht noch am ehesten etwas mit seiner frühen Ära zu tun. Die Harmonien, das Spiel mit dem Mysteriösen, die Melancholie eines Kirchenraums – das alles spiegelt auf der Oberfläche des Songs, das aus seinem Debüt 1977 stammt. Seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seinem Austritt von Genesis. Und so reduziert arrangiert, wie er ihn jetzt als Eröffnungsstück präsentiert, hat Gabriel noch weitere Spuren des Vergangenen verwischt. Darin ist der 73-Jährige, der zu Recht zu den Intellektuellen der Rock- und Popwelt zählt, ein ganz großer Meister.

Dunkel, ja finster ist es auf der Bühne. Nur ein überdimensionaler riesiger Vollmond und der Schein eines Lagerfeuers beleuchten die kleine Gruppe schwach. Er selbst bedient das Piano, ein halbes Dutzend weiterer Musiker begleiten ihn auf akustischen Instrumenten. Selbst ein sonst so vorwärtstreibender Song wie „Growing up“, der die Grundhaltung eines Kinderreims hat, kommt wie der Song einer verschworenen Gemeinschaft rüber.

Peter Gabriel in Köln FOTO: Dylan Akalin

Es dauert also eine Weile, bis Gabriel mit vollem Orchester und voller Bühnenschau loslegt. Und der Brite hat nicht nur etwas zu sagen, was er auch häufig radebrechend auf Deutsch tut, sondern auch Humor. Es ist Punkt 20 Uhr, als der dunkel gekleidete Künstler die Bühne betritt. „Die Zeit gibt den Ton an“, sagt er. „Aber die Fantasie erlaubt es, ihr zu entkommen.“ Er fordert das Publikum auf, sich in eine Zeit 4,5 Milliarden Jahre zurückzuversetzen, als die Erde ein toter Planet war. „Das wird wieder passieren, wenn wir nicht vorsichtig sind.“ Tosender Applaus.

Es falle immer schwerer, das Echte vom Unechten zu unterscheiden, fährt er fort,  um dann dem Publikum zu eröffnen, dass auch er nur ein „lebender Avatar“ sei. Doch anders, als ABBA bei ihrer Avatar-Show in London, sei er nicht 20 Jahre jünger und zehn Kilo leichter. Im Gegenteil. Sogar sein Haupt sei kahlköpfig.

Tolle Dramaturgie

Es wäre nicht Peter Gabriel, wenn er sich einen ganzen Abend nur auf die zuverlässigen Hits, von denen es in seiner Karriere ja nicht wenige gegeben hat, verlassen würde. Es spricht für den Künstler, dass die Hälfte der 22 Songs aus seinem neuen Album „I/O“ ist, das noch nicht einmal erschienen ist. Seit einiger Zeit veröffentlicht er an jedem Vollmond einen neuen Song daraus. Der Mond spielt auch beim Intro eine große Rolle auf der Bühne. Leinwände in verschiedenen Formen und Größen umrahmen mit aufwendigen Bildern und Effekten den Auftritt, ja, auch kreisrunde, scheibenförmige Lichter heben und senken sich wieder über den Musikern. Bei „Love Can Heal“ tritt er hinter eine riesige, wie klarer Kunststoff wirkende Leinwand, die immer wieder undurchsichtig wird und den Sänger als Silhouette abzeichnet und er mit einem magischen Stift Rauchkreise in die imaginäre Luft zeichnet.

Peter Gabriel in Köln FOTO: Dylan Akalin

Die Dramaturgie der Songabfolge ist perfekt. Zwischen den neuen Songs mischt er immer wieder Lieder, die jeder kennt. „Solsbury Hill“, das fast fünf Jahrzehnte später immer noch den beschwingten Charme eines Frühsommerhits hat, der erwähnte Opener und „Biko“ als zweite Zugabe  sind die ältesten Stücke aus dem Repertoire. Der zweite Schwerpunkt liegt auf den Singles des erfolgreichen Albums „So“ aus dem Jahr 1986. „Sledgehammer“ lässt das Publikum aus den Sitzen hochspringen – und beendet das erste Set.

„I/O“ steht für Input/Output

Wann das Album „I/O“ (steht für Input/Output) erscheint, ist offenbar immer noch nicht entschieden. Aber wir hören, dass Gabriel immer noch Sinn für expansive Melodien, dramatische Stimmungen und philosophisch-politische Themen hat. Der Songtitel „Panopticom“, erläutert Peter Gabriel in einem Erklärvideo, gehe zurück auf den britischen Sozialreformer Jeremy Bentham und sein Panopticon, ein Konzept zum Bau von Gefängnissen, die kreisrund angelegt sind. Die Gefängniszellen sind zur Mitte hin offen, vom Wachturm im Zentrum lassen sich alle Insassen optimal überwachen. In seinem Stück indes geht es um einen Datenglobus, der die grenzenlose Ansammlung und Zugänglichkeit von Informationen , Geschichten und Erinnerungen ermöglichen würde – aber, um der Welt zu einem besseren Verständnis der aktuellen Ereignisse zu verhelfen. „Stellen Sie sich vor, jedes Kind auf der Welt hätte unbegrenzten Zugang zu Bildung und zum Gesundheitswesen“, erklärt er in gebrochenem Deutsch. Durch eine kleine Änderung im Wort, den Austausch eines „n“ durch ein „m“ („Panopticom“) verändert sich das Konzept eines Gefängnisses zu einem Konzept, in dem ein zentraler Turm in jede Zelle sehen kann.

Peter Gabriel in Köln FOTO: Dylan Akalin

Der Song chargiert zwischen luftiger Melodie und mystisch-dunkeln Parts mit zurückhaltenden Gitarren und dumpfem Schlagwerk. Der mitunter undurchschaubare Text erinnert vom Konzept an „Lamb Lies Down On Broadway“. „And we reach across the globe/We got all the information flowing/You face the mother lode/Tentacles around you around you…“ „Mother Lode“ könnte hier nicht nur als Hauptader, sondern den sprichwörtlichen Schatz meinen.

Dinosaurier

Das gefühlvolle Flügelhorn, das Cello, die knalligen Percussions, der hingebungsvolle Gesang prägen „Four Kinds of Horses“. Was für ein Sound. Die Musik, an der auch Brian Eno gearbeitet hat, wirbelt und funkelt um einen herum, sie füllt den Saal wie eine organische Atmosphäre. Gänsehaut. Beim Text ließ sich Gabriel von einem buddhistischen Gleichnis inspirieren, das auch „Vier Arten von Pferden“ genannt wird: „Das erste Pferd galoppiert allein beim Anblick einer Peitsche“, sagte Buddha. „Das zweite Pferd galoppiert, wenn die Peitsche sein Haar berührt. Das dritte Pferd galoppiert, wenn die Peitsche seine Haut berührt. Das vierte Pferd beginnt erst zu galoppieren, als die Peitsche seine Knochen berührt.“

„Wir kennen uns noch aus Zeiten, als Dinosaurier die Welt beherrschten“, sagt Garbiel scherzhaft über seine langjährigen Weggefährten Tony Levin (Bass), David Rhodes (Gitarre) und Manu Katché (Schlagzeug). Ich erinnere mich noch an das Konzert 1980 in Düsseldorf, als Gabriel mit seiner Band, alle in schwarzen Overalls mit weißen Seitenstreifen gekleidet, aus dem Dunkel traten. Mit Scheinwerfern in den Händen suchten sie sich den Weg durch den finsteren Saal. Erinnerungen. Das erste Mal erlebte ich Peter Gabriel 1975 in der Philipshalle in Düsseldorf. Das war auf der „The Lamb Lies Down on Broadway“-Tour. Der technische Aufwand war ein Witz gegen das, was wir heute erleben. Dennoch ein ins Gedächtnis eingebranntes Erlebnis. zur Zugabe gab es „The Musical Box“ und „Watcher of the Skies“. Wie er sie wohl heute neu interpretieren würde?

„Don’t Give Up“

„Digging In The Dark“ kommt heute als kraftvoller von rWorldmusic und Jazz durchsetzter Progrock mit viel Psychedelic-Ausläufern am Ende. Dass alle Stücke wie aus einem Guss erscheinen, egal ob Frühwerk oder aktuelles Material, das hängt mit diesen genialen Überarbeitungen zusammen. Adern von Jazz, Seele von afrikanische Tribal-Musik, ein Hauch von japanischer Kabuki-Ästhetik, atmosphärische Elektronik und das alles in ein Gewand des Rock zu kleiden, zu einem anatomischen Gesamthaften zu formen – sowas kann nur Peter Gabriel.

Peter Gabriel in Köln FOTO: Dylan Akalin

Eine ebenso authentische wie bewegende Version von „Don’t Give Up“ ist eine weitere Perle auf der Kette. Während Sängerin Ayanna Witter-Johnson die ursprünglich von Kate Bush gesungenen Refrains des Duetts singt, wandert Gabriel von einer Empore hinab, von der Ferne sieht es so aus, als kauerte er da, so als könnte er die Kraft des Songs kaum ertragen. Die Version hat eine Spur von Gospel in sich.

Bruce Springsteen und Steven van Zandt

Coole, knallige Sounds brechen dann mit „The Court“ von der Bühne, das gedämpfte Trompetensolo bei „Red Rain“ trifft einen ins Mark, so wie das schöne „And Still“, ein Gedenken an Gabriels 2016 verstorbene Mutter, mit einem bezaubernden ,Cello-Spiel in der Bridge das Herz. Wir wissen nicht was Bruce Springsteen und Steven van Zandt von dem Konzert hielten. Die beiden saßen auf Hockern im abgesperrten Bereich des Mischpults/Technik. Bruce mit Kappe und schwarzer Lederjacke, Steven mit Schlappen und bunter Reggae-Mütze. Aber der Zauber wird nicht an ihnen vorbeigegangen sein.

Was Gabriel an diesem Abend mit seinen acht Musikern an knapp zweieinhalbstündigem Netto-Spiel zaubern, mit diesem warmen Sound aus Rock-, Funk-, Folk-, Jazz- und Weltmusikelementen, wie stark es Gabriel immer noch versteht, mit seiner rauen, gefühlvollen Stimme jede Nuance von Emotion auszudrücken, ist bemerkenswert. Dazu diese fantastische Inszenierung mit atemberaubenden Bildern und Lichteffekten. Es gibt nicht viele Konzerte, bei denen ich wünschte, sie würden ewig dauern. Dieses gehört eindeutig dazu.