Wenn ich mich als Ü60 bei einem Konzert wieder wie ein Teenager fühle, wenn ich gefesselt bin vom Sound, von der Musik, von der Show. Wenn ich die Zeit und alles um mich herum vergesse. Dann muss die Band alles richtig gemacht haben. Porcupine Tree haben genau das geschafft. Das Konzert am Sonntagabend in der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen war ein Ereignis. Eine Sinnesreise, an die wir uns noch lange erinnern werden.
Von Dylan Akalin
Der nervtötende Dauerton endete Punkt acht, als Steven Wilson (Gitarre, Gesang), wie üblich barfuß, Richard Barbieri (Keyboards) und Gavin Harrison (Dums) sowie Gitarrist Randy McStine (Mcstine & Minnemann, Lo-Fi Resistance) und Bassist Nate Navarro (Devin Townsend) auf der Bühne das etwas verstörende „Blackest Eyes“ anstimmen. Dieser Wechsel von beinahe brachialer Wucht und melodiöser Schönheit in einem Song über den Geist eines Psychopathen inmitten eines von Normalität geprägten Lebens ist schon auf dem Album „In Absentia“ eindrucksvoll befremdlich. Aber jetzt live hier. Von Porcupine Tree gespielt, die nach zwölf Jahren wieder mal zusammengekommen sind. Da mischen sich beschwingte Erwartung mit begeistertem Glücksgefühl.
Richard Barbieri ist ein Zauberkünstler, ein Magier an den Klangerzeugern. Wir erinnern uns an seine fantastische Zeit bei Japan und David Sylvian. Das mit industriellem Gepolter beginnende, stark an King Crimson erinnernde „Rats Return“ bereichert er mit cineastischen Passagen, spacige Sounds bei „Dignity“ begleiten den krächzenden Gesang Wilsons, als würde er durch eine Gegensprechanlage rufen. Im zweiten Set übertrifft er sich sogar nochmal: Zu „Buying New Soul“ erschafft er Klangwände, als kämen sie aus der dunklen Tiefe des Meeres. Bei der achtminütigen Version fehlt dann leider das Keyboardoutro. Auch „Walk the Plank“ endet ein wenig zu abrupt, dafür zaubert Berbieri rund um Wilsons E-Piano-Spiel reizende Kolorite. Gurgelnde, schlürfende, mechanisch-würgende Klangeffekte wie aus den Tiefen eines geheimnisvollen Maschinenraums begleiten ein erhabenes Orgelspiel bei „Herd Culling“, verfremdete Didgeridoos dröhnen zu Bildern von Robotern bei „Sleep Together“. Der Mann steht an seiner Batterie aus Keyboards, konzentriert, ernst. Ein Arbeiter auf der Bühne. Und erzeugt mit seinen Maschinen Klangstrukturen, auf denen man davonfliegen möchte.
Aber es ist natürlich die Gesamtwirkung, die die Fans zu Recht so mitreißt. Tatsächlich entfalten die Songs vom aktuellen Album „Closure / Continuation“ live eine besondere Strahlkraft. Der Bass im Intro von „Harridan“ kommt wuchtiger, schräge Sounds legen sich unter den mit viel metallischem Hall versehenen Gesang, der dynamische Chorus reizt zum Fäuste in die Luft recken. Der sanfte Mittelteil ist anrührender, die wilden Drums und massiven Instrumentenattacken nach einem Break zu den eindrucksvollen Bildern eines staubigen Weges umso schroffer.
Die optimistische Ballade „Of The New Day“ ist ein Ohrwurm, der sich ganz sachte unter die Haut schiebt. „Halte deine Angst im Zaum, meine Liebe“, singt Wilson leise. „Es gibt keinen Grund zu kämpfen/Lassen dich am neuen Tag einfach davontreiben…“, um dann mit seiner Gitarre ein klangliches Fluchtfahrzeug aufkreischen zu lassen. Nach dem fulminanten „Rats Return“ leitet ein Trommelwirbel und einem von grellen Scheinwerfern begleiteter Beckenschlag in „Even Less“ (Stupid Dream – 1999) ein. Da muss ich an Peter Gabriel im Ruhrstadion in Bochum am 12. September 1987 denken. Der spielte damals auch ähnlich genial mit den Möglichkeiten des Lichts. Den Schluss krönen ein kontrastreiches Spiel von Keyboard und Gitarre.
Intensiv kommt „Drown With Me“ (In Absentia, 2002) rüber. „Dignity“, untermalt von großzügigen Keyboards, erzählt von der Würde von Menschen, die auf der Straße leben, dazu gibt es auf der Leinwand Bilder von heimatlosen Menschen, eine Art thematische Antwort auf Jethro Tulls „Aqualung“.
„Vor 21 Jahren schrieb ich einen Song darüber, wie Musik zur Ware wurde“, sagt Wilson, als er den In-Absentia-Song „The Sound of Muzak“ ankündigt. Er habe sich damals vorgestellt, dass Musik etwas werde, das man im Lebensmittelgeschäft kaufen oder wie eine App runterladen könne. „Nun, Gott sei Dank ist das nicht passiert“, sagt er ironisch. Randy McStine glänzt hier ebenso mit einem wunderbaren Solo wie bei „Last Chance to Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled“, während Wilson die Akustikgitarre bedient. Fetzen aus einer Rede des Anführers der religiösen Sekte Heaven’s Gate, der seine Leute 1997 in einen Massenselbstmord führte, flimmern über die Leinwand und die Lautsprecher.
Im Begleitfilm zu „Chimera’s Wreck“ bilden sich wie aus dem fernen Licht kommende zellgroße Organismen, aus denen Tentakeln wachsen und die sich langsam zu DNA-Strängen zusammentun. Das ist eben auch Porcupine Tree, eine Band, die was zu sagen hat. Formeln und Zahlen fliegen über die Leinwand. Wer sind wir? Was sind wir? Sind wir mehr als Zellklumpen voller Information? Dazu die nach vorne hastende Musik der Band. Wilson denkt in diesem Song über den Tod seines Vaters nach und klagt über Angst vor dem Glück. Die Arpeggios erinnern an Pink Floyds „Hey You“.
Nach der Pause kehrt die Band mit einem Set zurück, das stark von dem wegweisenden Album „Fear of a Blank Planet“ (2007) bestimmt ist. Blau flimmernde, verwackelte Bilder, Kinder mit Waffen, rauchend vor Plattenwohnsiedlung stehend, brennen Autos und Fernseher nieder „Crap“ steht in Versalien auf dem T-Shirt von einem Jungen, also „Scheißdreck“. Schlüsselkinder, auf sich gestellt, durch übermäßige Bildschirmzeit und Übermedikation abgestumpft gegenüber Gewalt. Für die Ballade „Sentimental“ wechselt Wilson zum E-Piano. Das Musikvideo von dem durch rote Linsen verfolgten, zähnefletschenden Wolf löst „Herd Culling“ ein bedrohendes Gefühl aus.
Das Publikum feiert die Band schon bei der Ankündigung des epischen „Anesthetize“ („Older Material“). Ein 15 Minuten langer musikalischer LSD-Trip. Der Film im Hintergrund erinnert an Philip Glass‘ „Koyaanisqatsi“. „Sleep Together“ ist sowas wie die Progrock-Antwort auf Kraftwerks „Menschmaschine“. Zur Zugabe spielt die Band „Collapse The Light Into Earth“, „Halo“ und „Trains“. Ein dreistündiger Rausch nicht nur für Porcupine Tree-Fans. Bleibt nur noch ein Wunsch offen: Porcupine Tree als Act auf dem KunstRasen Bonn 2023?