Es ist genau 40 Jahre her, dass die Berliner Elektro-Pioniere Tangerine Dream ihr bahnbrechendes Album „Phaedra“ herausbrachten. Der amerikanische Musikführer All Music Guide to Electronica beschreibt das Album als Meilenstein für die Band und als „eines der wichtigsten künstlerischen und spannendsten Werke in der Geschichte der elektronischen Musik“. In den britischen Albumcharts erreicht es damals Platz 15, in sechs weiteren Ländern Goldstatus. Lediglich in ihrer deutschen Heimat verkauft sich das Album gerade mal 6000mal. Die vielschichtige Geschichte der 1967 von Edgar Froese gegründeten Formation könnte Bände füllen. Die Gruppe startete als eher surreale Rockband, die avantgardistische Elemente einflocht – von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen oder des Amerikaners Terry Riley, dem Meister des Minimalistischen, der klassische Musik mit Jazz, Weltmusik und Elektronik verband. Froese entwickelte sich immer weiter hinein in die rätselhafte Welt der Elektronik, seine Ideen und Sounds mit den teilweise bis zu 20 Minuten ausufernden kosmischen Melodien beeinflussten Bands wie Pink Floyd, Steven Wilson von Porcupine Tree, schufen die Voraussetzungen für die Sounds von Portishead, Moby oder Underworld, und sogar Rammstein-Sänger Till Lindemann bezeichnet Tangerine Dream als frühe Inspiration. Am 1. und 2. Juni spielt Tangerine Dream im Theater am Tanzbrunnen in Köln-Deutz. Mit Edgar Froese sprach Cem Akalin.
Herr Froese, wissen Sie, was mir einfiel, als ich Ihre Alben erneut gehört habe? Ich habe an eine Kirche gedacht. Diese Erhabenheit, das Transzendente Ihrer Musik hat etwas Religiöses. Entspricht das Ihren Vorstellungen?
Edgar Froese: Aus meiner tiefsten Überzeugung liegen Welt und Menschheit ein Masterplan zugrunde. Wie diese Tatsache einzuordnen ist und welche Namen man für diese Tatsachen findet, ist vielfältig. Um meiner Idee einer spirituellen Realität nahe zu sein, brauche ich weder Steinkirchen noch Kanzelexegesen, jeder Mensch sollte in sich selbst eine ernsthafte Suche nach diesen Wahrheiten beginnen.
Musik, Malerei, Literatur – In Ihren Anfangsjahren haben Sie sich nicht festlegen wollen. Und Ihre Musik scheint eine logische Weiterentwicklung aus einem ganz eigenen Kunstbegriff zu sein. Habe ich recht?
Froese: Die Trennung der sogenannten Kunstgattungen findet nur in den Köpfen der Betrachter statt. Kreativ zu sein und seine subjektive Sicht der Welt zu formen und auf diverse Arten zu dokumentieren, ist immer die Grundvoraussetzung. Ob jemand dieses Ziel mit dem Pinsel, dem Klavier oder einem Computer erreicht, ist eigentlich sekundär, solange der Künstler selbst dabei authentisch bleibt.
Was bedeutet Ihnen Kreativität? Ist es für Sie eher ein bewusster Prozess, sozusagen im buddhistischen Sinne: „Wer nicht bewusst ist, ist gewissermaßen schon tot.“? Oder sehen Sie sich da eher als Schüler eines Joseph Beuys, der sagte: „Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität.“?
Froese: Sowohl Beuys als auch ein Buddhist hätten recht. Kreativ sein heißt ja nicht Regeln und Dogmen bedingungslos zu folgen, sondern Regeln und Dogmen in Frage zu stellen, um eingefahrene Wege zu verlassen. Wahr ist immer die individuelle Sicht auf diese Welt, da es niemals zwei Künstler geben wird, die Wahrheiten synchronisieren können. Kreativität ist scheuer als ein Reh.
Was meinen Sie damit?
Froese: Sie sucht die Nähe zu den Menschen, die authentisch nach dem Zeitlosen in der Kunst suchen, dort lässt es sich nieder.
Wie haben Ihnen die neuen elektronischen Mittel ab der 60er Jahre geholfen, Ihre Vorstellungen von Klangerlebnissen umzusetzen?
Froese: Sie waren und sind unerlässliche Werkzeuge, um neue musikalische Wege beschreiten zu können, nicht mehr aber auch nicht weniger.
War das nicht bisweilen sehr verwirrend, mit den riesigen Gerätschaften und den vielen Kabeln das Ergebnis zu bekommen, das Ihnen vorschwebte?
Froese: Ja, es war in der Anfangsphase sehr schwierig und vor allen Dingen sehr zeitaufwendig. Sie müssen eine sehr große Liebe zur Musik besitzen, um einen solch langen Weg mit immer wieder neuen Herausforderungen gehen zu können.
Was war/ist Zufall oder vielleicht kalkulierter Zufall, wie gehen Sie beim Komponieren vor?
Froese: Komponieren ist immer eine Symbiose aus einer guten Kenntnis der Materie, mit der Sie umgehen und dem Auftreten von Zufälligkeiten. Vieles in musikalischen Produktionen kann geplant werden, ob es dann allerdings qualitativ überdurchschnittlichen Wert besitzt, lässt sich erst viel später feststellen.
Gerade live steht auch die Improvisation, also das spontane Komponieren, im Mittelpunkt. Sie stehen da schon mal mit einer ganzen Truppe an Musikern. Wie funktioniert das?
Froese: Wenn man mit inzwischen sechs Musikern auf der Bühne steht, ist ein Improvisieren wie es vor 40 Jahren sinnvoll war, unmöglich. Es gibt heute kompositorische Strukturen, an die sich alle Beteiligten halten müssen und die auch eine intensive Probenarbeit voraussetzen. Darüber hinaus existieren Freiräume, in denen jeder Kollege seine individuellen Fähigkeiten und Vorstellungen umsetzen kann.
Die Sounds Ihrer frühen Alben – Phaedra, Rubycon, besonders Cyclon – erscheinen mir heute immer noch bemerkenswert modern. Erstaunt Sie das eigentlich selbst?
Froese: Eine immer wiederkehrende Signatur von interessanten Werken in der Musik ist eben diese, von Ihnen umschriebene Zeitlosigkeit. Wir waren nie Herdentiere, die kommerziellen Stilen oder zeitgemäßen Songstrukturen hinterher gelaufen sind. Das macht das Arbeiten im noch unbekannten Terrain oft mühsam und man hat am Anfang mit sehr viel Gegenwind zu rechnen. Am Ende des Tages weiß man allerdings, dass der Weg der richtige war.
Junge Bands wie etwa Opeth oder Steven Wilson greifen wieder verstärkt zu „alten“ Keyboards wie das durch Sie bekannt gewordene Mellotron oder zum Mini Moog. Was macht das Arbeiten mit diesen Keyboards eigentlich so besonders?
Froese: Menschen ziehen sich auch Jacken an, die vor zwanzig Jahren modern waren. Andere haben ihre alten Kleider nie abgelegt. Für mich hat diese Retro-Bewegung keine Berührungspunkte, da ich diese Klänge und die Auseinandersetzung mit dem analogen Equipment durchlebt und durchlitten habe. Für mich zählen die abenteuerlichen Entwicklungen im Nano-Bereich, Klangtransformationen, die so unglaublich sind, dass man sie noch gar nicht beschreiben kann. Was morgen passieren wird, ist wichtig, heute bemühe ich mich darauf hin zu arbeiten, das Neue zu verstehen.
Sie gelten vielen Musikern als Vorbild. Jim Kerr von Simple Minds bekannte sich kürzlich als großen Tangerine Dream-Fan. Bekommen Sie eigentlich Anfragen von jungen Musikern? Was machen Sie damit? Gibt es Ideen für Kooperationen?
Froese: Kooperationen sind aus zeitlichen Gründen fast unmöglich. Ja, ich bekomme von jungen Kollegen tatsächlich sehr viele Anfragen über das Gehen in neue Richtungen und wie ausgetretene Pfade am besten zu verlassen sind.
Was antworten Sie?
Froese: Meine Antwort orientiert sich an einem Ausspruch, den ich von Mozart lernte, der 1789 gefragt wurde, was der beste Weg sei, um Musiker zu werden. Seine Antwort: „Ich habe niemals andere nach meinem Weg gefragt.“
Sie haben Ende der 1960 Happening Afternoons mit Salvador Dalí veranstaltet. Gibt es davon eigentlich Tondokumente?
Froese: Leider nicht.
Was dürfen die Fans am 1. und 2. Juni in Köln erwarten?
Froese: Wer TD-Musik kennt und sich mit dieser Klangstruktur identifizieren kann, wird auf seine Kosten kommen und dies auf einer zweieinhalbstündigen Reise durch das musikalisch-visuelle Abenteuerland mit Mehrwertgefühl.
Zur Person:
Edgar Wilmar Froese wurde am 6. Juni 1944 in Tilsit geboren.
Froese studierte Malerei und Grafik an der Berliner Akademie der Künste, lernte Salvador Dalí kennen, der ihn nach Spanien einlud, wo er eine Zeit lang bei ihm wohnte. Legendär sind die sogenannten happening afternoons, eine Art kreativen Wahnsinns aus Musik, Literatur und Malerei.
Im September 1967 gründete Edgar Froese Tangerine Dream, auf Deutsch: Orangeroter Traum. Er ist Mastermind und einziges übriggebliebenes Gründungsmitglied.
Froese schrieb eine Reihe von Soundtracks, auch für den „Tatort“. Im vergangenen Jahr erschien das Computerspiel „Grand Theft Auto V“ mit seiner Musik.
Zu seinen musikalischen Weggefährten gehörten Steve Jolliffe (Steamhammer), Klaus Schulze und der Experimentalmusiker Conrad Schnitzler. Langjährige TD-Mitglieder waren etwa Christopher Franke (1971-1988), Peter Baumann (1971-1977), der später das New-Age-Label Private Music gründete, Johannes Schmoelling (1979-1985), Paul Haslinger (1986-1990) und Froeses Sohn Jerome Froese (1990-2006).
Tangerine Dream spielen live am 1. und 2. Juni ab 20 Uhr im Theater am Tanzbrunnen, Rheinparkweg 1, 50679 KÖLN. Tickets gibt es in den BonnTicket-Shops der GA-Geschäftsstellen.
Discographie (Auszug):
1970 Electronic Meditation
1974 Phaedra
1975 Rubycon
1975 Ricochet
1984 Poland
1989 Lily On The Beach
1999 Mars Polaris
2007 Springtime in Nagasaki
2007 Summer in Nagasaki
2008 Autumn in Hiroshima
2009 Winter in Hiroshima
2009 Chandra – The Phantom Ferry Part 1
2013 One Night in Africa
2014 soll Chandra – The Phantom Ferry – Part II erscheinen.