Vielleicht kann man diesen Auftritt von Kraftwerk in Bonn vor der Kulisse der ehrwürdigen Universität Bonn als „historisch“ bezeichnen. Das ältere Publikum wallfahrt zu den Helden ihrer Jugend, die Jüngeren kommen vielleicht aus Neugier, vielleicht auch, weil sie wissen, dass Kraftwerk einen enormen Einfluss auf die junge Musik gehabt hat und immer noch ausübt. Kraftwerk präsentiert nicht nur eine Show, ihre Performance ist ein Ereignis, das Publikum wird Teil des Gesamtkunstwerks, an dem ständig weitergearbeitet wird. Kraftwerk in Bonn? Einfach Wahnsinn!
Von Dylan Akalin
1-2-3-4-5… Metallische Roboterstimmen brechen die Luft zwischen der Bühne und dem Akademischen Kunstmuseum, wo 25.000 Fans mit 3D-Brillen stehen. Ein irres Bild! Während der ebenso übersichtliche Text über die Lautsprecher grollt, stehen Ralf Hütter, einzig verbliebenes Gründungsmitglied der Kunstvereinigung, Fritz Hilpert (immerhin seit 1989 dabei, Henning Schmitz (seit 1991) und Falk Grieffenhagen (seit 2012)stehen in grünem Computerlicht auf der Bühne. Die Zahlen im Hintergrund auf der Leinwand machen sich selbstständig, wabern, bilden merkwürdige Figuren. Die Zahlen werden noch auf Englisch und Französisch aufgezählt.
„Computerworld“ spielt mit den Sounds, die wir vor allem aus der Anfangszeit des digitalen Informationszeitalters kennen. Im Hintergrund taucht das Bild eines alten PC auf. „Interpol and Deutsche Bank/FBI and Scotland Yard“ werden zu Datenkraken, Zahlen sind Geschäft. Ohne Zahlen keine Geschäfte, ohne Geschäfte keine Macht. Es wundert nur, dass die wichtigste Zahl in der Digitalwelt nicht vorkommt. Die Null zählt als eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit. Macht nichts. Die Sounds bleiben, auch wenn es bunte Störbilder gibt, grüne Felder über die Leinwand tanzen. Die Musiker bleiben stets distanziert. Es gibt keine Interaktion mit dem Publikum, keine merkliche untereinander. Der Musiker wird zum Operator, zum Dienstleister. Gesichtslos. Charakterlos. Ohne emotionalen Bezug.
Ufos über Bonn
„Spacelab“ wird richtig witzig. Da fliegen Ufos über Bonn mit dem Siebengebirge am Horizont und landen am Ende auf der Hofgartenwiese. Alle 3.D natürlich. Überhaupt sind diese Effekte, die man über die entsprechende 3-D-Brille (gab’s beim Einlass) erleben kann, so witzig wie beeindruckend. Man fühlt sich zurückversetzt in die gute alte Zeit der Programmkinos, als der Kultfilm „It Came from Outer Space“, dieser Science-Fiction-Horror-Film von 1953, Kultcharakter hatte.
Natürlich gibt es die „Menschmaschine“ mit großen weißen Lettern auf dem Screen. „Electric Café“ mit schwarz-weißen Linien, als würde man gleich in den Timetunnel verschwinden. Wir fahren im alten VW Käfer über die „Autobahn“, hören „Computerliebe“ und denken an „Talk“, den berühmten Song der britischen Rockband Coldplay. „Radioaktivität“ strahlt mit leuchtenden Bildern, bei „Tour de France“ flimmern alte Dokumentarstreifen – eine unglaublich beeindruckende Show mit sensationell gutem Sound.
Kraftwerk wurde 1970 in Düsseldorf von Ralf Hütter und Florian Schneider (gestorben am 21. April 2020) gegründet und schafft mit dem vierten Album „Autobahn, Autobahn“ 1974 den Durchbruch. Eher minimalistisch, körperloses, mit wiederholten rhythmischen Mustern, Melodien wie Refrain, der Stimme, die mehr gesprochen als gesungen ist, manchmal auch verzerrt, die Verwendung von Alltagsklängen – Für die elektronische Musik der Gegenwart hat Kraftwerk immer noch einen Vorbildstatus.
Pioniere der Elektromusik
Kraftwerk ist in der Elektromusik vielleicht das, was die Rolling Stones, Bob Dylan und die Beatles für die Rock- und Popmusik sind: Pioniere, aber auch Avantgardisten, sie schaffen quasi die Matrix für die kreative Inspiration folgender Generationen. Heute wissen wir zudem, dass die Düsseldorfer schon in den 1970er Jahren ihrer Zeit voraus waren. Ihr Ansatz von Sounds, Melodien, Rhythmen ist völlig eigenständig gedacht und folgt einer konzeptionellen Kontinuität. Ihre Musik ist gleichsam die musikalische Transformation technologischer Entwicklungen. Ihr Sound stilisiert Architektur, Technologie, Entwicklung. Das ist fast ein wenig beängstigend.
Und jetzt also Station in Bonn mit ihrer 3-D-Tour, eigentlich für 2020 gedacht. Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. Musste verschoben werden. Mehrmals. Aus bekannten Gründen. Und jetzt bringt Kraftwerk, die mit zehn Sattelschleppern Elektronik angereist sind und somit wohl das aufwendigste Musikerlebnis in der Geschichte Bonns präsentieren, die Show endlich auf die Bonner Hofgartenwiese. Also doch „historisch“. Mit ihrer Mischung aus Sound, Bildern, Licht und künstlerischer Performance sind Kraftwerks 3D-Konzerte auch Teil des Gesamtkunstwerks. Die 25.000 Fans und rund 10.000 Fans außerhalb der Konzertzone sind begeistert!
Das Konzert in Bonn war das einzige in Deutschland. Zuvor hat Kraftwerk in London und Paris gespielt. Jetzt geht es nach Lissabon, Malaga, Florenz und Genua.