Kann man den Regen riechen? Ja, definitiv, das kann man. Und kann man das Unbenennbare mit einem Namen versehen? Aus welchem Grund sollte man das tun? Der in Bonn lebende Multiinstrumentalist und Songwriter Nils Kercher hat die Suche nach griffigen Bezeichnungen für seine Musik längst aufgegeben. Seine Schöpfungen sind so reichhaltig an musikalischen Einflüssen, kulturellen Referenzen, persönlichen Geschichten und tiefgreifenden Ideen, dass selbst jede Aneinanderreihung von Begriffen nur einen Teil der enthaltenen Spurenelemente abdecken könnte. Begnügen wir uns deshalb an dieser Stelle mit dem wunderschönen und alles abdeckenden Begriff Musik.
Wie schon seine bisherigen Alben, ist auch die neue CD „Can You Smell The Rain“ (bei Amazon) nicht über Nacht entstanden. Der Grund dafür liegt schnell auf der Hand, wenn man sich auf Kerchers Welt einlässt. Er streift mit wachen Augen und offenen Ohren durchs Leben und bezieht mit seinen Songs Stellung. Seine Alben sind keine Ansammlungen schön klingender Plattitüden, sondern in jedem Lied geht es um etwas. Das Persönliche und das Globale gehen stets Hand in Hand. Mal offenbart es sich beim ersten Hören, anderes muss man sacken lassen, um ihm auf den Grund zu kommen.
Sänger ohne Mission
Dabei geht Kercher selbst äußerst zurückhaltend zu Werke. Er hat viel zu erzählen, leidet aber nicht unter dem Messiaskomplex so vieler seiner Kollegen. „Ich habe keine Mission und will keine bestimmten Nachrichten in die Welt tragen. Ich singe Songs über Dinge, die mich beschäftigen.“ Die nachdenklichen, sehr poetischen und im Detail zuweilen provokanten Texte stammen nicht von Kercher selbst, sondern von seiner Lebensgefährtin Kira Kaipainen. Sie entstehen meist unabhängig von den Kompositionen des Songschreibers, doch die Intentionen der beiden Kompagnons verschmelzen so kongenial, dass der Musiker nur in die heimische Schublade zu greifen braucht, um genau die Lyrics zu finden, nach denen er sowieso gerade gesucht hat.
Die Kombination von Klang, Text und einem bestechenden urbanen Groove nimmt den Hörer ein Stückweit an die Hand auf einer Reise. Doch Vorsicht vor falschen Erwartungen. Wer das Wort Reise voreilig mit Urlaub und Verklärung gleichsetzt, ist hier auf dem berühmten Holzweg.
Keine chillige Reise
„Can You Smell The Rain“ ist keine chillige Reise im klimatisierten All-Inclusive-Bus, sondern Kercher und Kaipainen konfrontieren das schauende Ohr durchaus mit den Brennpunkten und Problemzonen der äußeren Welt, bis sie ihm Zugang zu den Tiefen ihrer Innenwelten gewähren. Bisher hat sich Nils Kercher vor allem als Kora-Spieler einen Namen gemacht. Die Kora ist ein uraltes westafrikanisches Saiteninstrument, das etwas salopp als Mischung aus Harfe und Laute beschrieben werden könnte. Der Klangvielfalt des Instruments ist nur schwer mit landläufigen Begrifflichkeiten beizukommen, aber wer ihren klaren, filigranen, ebenso fließenden wie tröpfelnden Klang nur ein einziges Mal gehört, wird sie in jedem noch so großen Ensemble wiedererkennen.
Seine neue CD beschreibt Kercher aber als Wiederbegegnung mit der Gitarre. Die Songs sind hauptsächlich auf dem Sechssaiter geschrieben worden, die anderen Instrumente, unter anderem Geigen und selbstredend die Kora, kamen bei der Formung der Songs hinzu. Den Grund für seine Wahl kann Kercher nur schwer umreißen, und doch findet er dafür so poetische Worte, als ginge es um einen neuen Songtext. „Es ist, als würde man morgens vor dem Kleiderschrank stehen und nach den richtigen Klamotten für den Tag suchen. Man weiß einfach, was passt und was nicht passt. Das ist keine rationale Entscheidung, sondern ich höre innerlich, wie es sein muss.“
Überraschende Stilmittel
Über all diesen konzeptionellen und instrumentalen Komponenten steht der Gesang. Kercher schafft es, seiner Stimme in jedem Song neue Facetten abzugewinnen. Mal versonnen plaudernd, sich an anderer Stelle eindringlich zum Chor aufwerfend, hier mit den Stilmitteln der Gegenwart arbeitend, sich dort in die Gefilde der Tradition fallen lassend, rhythmisch akzentuierend oder melodische Bögen schlagend, findet er immer wieder überraschende Stilmittel, um jedem Song den Charakter einer individuell erzählten Geschichte zu verleihen.
So gelingt es Kercher auf faszinierende Weise, seine Songs nicht zu ver-, sondern zu entorten. Das Album ist wie ein Haus mit vielen Türen, und jedem Hörer sei es überlassen, für welches stilistische Klingelschild er sich entscheiden will. Kerchers Koraspiel ist so organisch von Einflüssen seines Alltags in Europa durchzogen, dass es völlig anders klingt als alles, was man von diesem Instrument aus Afrika kennt. Die Intention der Entortung hat Kercher schon auf seinen bisherigen Alben verfolgt, aber durch den prominenten Einsatz der Gitarre vermag er dieses Ideal auf „Can You Smell The Rain“ noch überzeugender umzusetzen.
Unwiderstehliche Kraft
Obwohl er verschiedene Traditionen verinnerlicht und respektiert, fühlt er sich doch keiner von ihnen ausschließlich verpflichtet. Es geht ihm ausnahmslos um seine persönliche Sprache, die er hintragen kann, wo immer er sich aufhält. „Das ist immer wieder ein Lauschen, das im Nichts beginnt, und die Bereitschaft, das Ungewisse zu ertragen.“Die Neue Westfälische Zeitung bescheinigte Nils Kercher eine „sanfte aber unwiderstehliche Kraft“. Treffender kann man es kaum ausdrücken. Seine Songs scheinen direkt im Ohr des Hörers zu entstehen, um sich anschließend aufzulösen und zu verschwinden. Und so erfüllt sich sein Plattentitel wie eine Prophezeiung. Tatsächlich glaubt man zuweilen, man könnte die Songs auf „Can You Smell The Rain“ eher riechen als hören.
Tour 2020
21.03.2020 BOCHUM Bahnhof Langendreer
27.03.2020 KREFELD Kulturpunkt Friedenskirche
28.03.2020 HAMBURG Goldbekhaus
29.03.2020 KÖLN Kantine
04.09.2020 LUDWIGSHAFEN Das Haus