Chrissie Hynde bringt mit „Valve Bone Woe“ ein hinreißendes Jazz-Album raus

Chrissie Hynde FOTO: Jill Furmanovsky

Das sei kein Jazz, sagt Chrissie Hynde in einem Interview entnervt. Wenn überhaupt, dann Jazz für Rocker. Wenn sie meint… Natürlich ist das Jazz, das durch die Filter der Pretenders bearbeitet wurde. Valve Bone Woe veröffentlicht an diesem Freitag, 6. September, Interpretationen bekannter Songwriter wie Brian Wilson, Frank Sinatra, Hoagy Carmichael, Charlie Mingus, John Coltrane, Nick Drake, Ray Davies sowie Rogers & Hammerstein.

Von Dylan Cem Akalin

Der Opener „How Glad I Am“ (Jimmy Williams, Larry Harrison) klingt tatsächlich noch stark an Pretenders, und das liegt nicht nur an der prägnanten Stimme von Chrissie Hynde. Der Jazz scheint mit angezogener Handbremse zu fahren. Der Beach Boys-Song „Caroline, No“ klingt wie Reggae-Pschedelic-Jazz. Doch der Frank Sinatra-Evergreen „I’m a Fool to Want You“ ist so sensationell gesungen und jazzig, dass einem jedes Härchen auf der Haut vibriert. Das gesamte Album ist ein einziger Hörgenuss.

Bei „I Get Along Without You Very Well (Except Sometimes)“ kommt mir zunächst die Interpretation von Frank Sinatra auf seinem wunderbaren Album „In the Wee Small Hours“ in den Sinn. Hynde singt ihn mit einer Whiskey-schwülen Attitüde, ein wenig versonnen, nach innen gekehrt und sehr gefühlsbetont.

Musikalischer Drahtschneider

Über „Meditation on a Pair of Wire Cutters“ schrieb der Jazz-Komponist und Bassist Charles Mingus damals 1964: „Ich fühlte, dass ich für Gott spielte. Doch, es ist jetzt die Zeit, wo Leute zusammenkommen und versuchen, ihren Weg zur Liebe zu finden mit etwas, das sie wärmt und zusammenbringt.“ Der Song bezieht sich auf Mingus‘Ansage, dass es im Süden der USA etwas Ähnliches gebe wie die Konzentrationslager in Nazi-Deutschland. Der einzige Unterschied innerhalb des Stacheldrahts sei, dass es noch keine Gaskammern und Krematorien gebe. Daher habe er das Stück geschrieben, um uns dazu zu bringen, Drahtschneider zu besorgen, bevor jemand Gewehre organisiert. Dass Hynde dieses Instrumental auf ihrem Album aufgreift, ist sicherlich nicht nur aus musikalischer Sicht zu betrachten.

„Once I Loved“ (Norman Gimbel, Vinicius De Moraes, Antonio Jobim) ist sicherlich eines der schönsten Liebesballaden des Bossa Nova – und für Chrissie Hynde wie auf den Leib geschrieben. „Wild Is the Wind“ singt Nina Simone sehr viel spröder als Hynde. Aber Hynde tut gut daran, sich gar nicht erst am Original zu versuchen, sondern eine sehr eigene Interpretation zu präsentieren. Diese stampfenden Rhythmen und die sanft begleitenden Bläser erzeugen eine Stimmung, wie in einer warmen, karibischen Nacht.

So kam es zu dem Album-Titel

Chrissie Hynde, in Akron, Ohio, aufgewachsen, ist ja tatsächlich mehr für ihre Rockattitüden bei den Pretenders bekannt, wo sie indes auch schon sanftere Töne anschlug. Jetzt greift sie Lieder von Frank Sinatra, John Coltrane, Nick Drake, Charlie Mingus und anderen auf, das sie als „Jazz/Dub“ -Album bezeichnet. Es wurde in den Londoner AIR-Studios aufgenommen und von Marius de Vries und Eldad Guetta produziert.  Zum Album Titel kam es so: „Vor ein paar Jahren las ich einen Nachruf auf den Posaunisten Bob Brookmeyer in der Zeitung“, erzählt Chrissie Hynde. „Ich schickte meinem Jazz-Saxophon spielenden Bruder Terry eine Mail mit den Worten ‚R.I.P. Bob Brookmeyer‘. Als Mann weniger Worte antwortete er mit ‚Valve Bone Woe‘, einer Art Haiku im Beatnik-Prosa-Style. Ich fand sofort, dass es der perfekte Titel für das Album war, an dem ich gerade mit meinem Producer Marius de Vries arbeitete. Nachdem wir den Song ‚I Wish You Love‘ für den ‚Eye Of The Beholder‘-Soundtrack aufgenommen hatten, kam in mir der Wunsch auf, mich weiter in diesem Genre zu bewegen. Also entwickelten wir die Idee zu dem, was wir unser Jazz/ Dub-Album nennen – die Platte, die nun unter dem Titel ‚Valve Bone Woe‘ vorliegt.“

Mit „You Don’t Know What Love Is“ singt sie eine Melodie, die sicherlich jeder Jazzfan von innen und außen kennt. Es ist überraschend, wie viel Gefühl und erfinderische Phrasierung sie aus dieser bekannten Melodie herausholt. Ihr Stimmton ist rauchig, sinnlich und vermittelt sehr eindrucksvoll den Schmerz der Texte. Das Stringarrangement und die Klavierbegleitung sind hervorragend. Das Klaviersolo hält sich stark an die Jazztradition.

Mit Jazz aufgewachsen

Wenn Hynde sagt, dass es sich nicht um ein Jazz-Album handelt, dann sicher nur deshalb, weil sie gar nicht erst in den Wettstreit mit irgendwelchen Bebop-Sängern treten will. Ihr musikalisches Edikt war es immer, Songs mit einer Ehrlichkeit zu singen, die einzigartig ist. Es ist faszinierend, wie sie die Songs mit ihrem eigenen Leben beflügelt. „Ich bin nicht sehr daran interessiert, mich anderen Musikrichtungen zuzuwenden, da ich ein frommer Rocksänger bin, aber Jazz ist etwas, mit dem ich aufgewachsen bin“, sagt sie.

Wir hören noch wunderbare Versionen von Nick Drakes „River Man“ und “Absent Minded Me”, das wir vor allem in der Interpretation von Barbra Streisand kennen. John Coltranes “Naima” erklingt als melancholisches Acid Jazz-Track.  Die Zeilen „I know how it feels to have wings on your heels/And to fly down the street in a trance“ aus „Hello, Young Lovers” (Richard Rogers, Oscar Hammerstein II) ist sowas wie die Grundbotschaft dieses Albums, das mit “No Return” (Ray Davies) und “Que Reste-T-il de Nos Amours” (Charles Trenet) endet. Bezaubernd!