Steven Wilson: „Hand.Cannot.Erase“ (Kscope – Edel)
Steven Wilson hat ein Gespür für atmosphärisch dichtes Songwriting, und auf seinem Album „Hand. Cannot. Erase.“ kommt zur musikalischen Brillanz auch noch sein Talent, Geschichten zu erzählen hinzu. Ja, dieses Album steht ganz eindeutig in der Tradition von The Wall (Pink Floyd), Quadrophenia (The Who) und The Lamb Lies Down On Broadway (Genesis), es sind aber auch Referenzen an Kate Bush zu hören. Und wer auf so manchen Instrumentalparts die guten alten Genesis stark heraushört, dem dürfte es nicht überraschen, dass das wohl auch gewollt ist.
Er habe tatsächlich ein Album mit dem Sound von 1972 machen wollen, erklärt er. Herausgekommen ist ein fantastisches Konzeptalbum, das die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die verschwindet und von niemandem vermisst wird.
Vorlage für diese fast dokumentarische Chronik, die stellvertretend für das moderne urbane Leben steht, ist eine tatsächliche Begebenheit. Als Joyce Carol Vincent auf ihrem Sofa vor dem laufenden Fernseher gefunden wird, stapelt sich die Post an der Eingangstür auf dem Boden. Joyce Carol Vincent ist da schon seit drei Jahren tot, kein Mensch hat die junge Frau vermisst. Dabei hatte sie Familie, Freunde, einen Job. Wie konnte es dazu kommen, dass jemand mitten in London stirbt, ohne dass dies irgendjemand bemerkt? Wilson beschäftigt sich musikalisch mit der Frage. Das Ergebnis ist einfach großartig.
Der 47-jährige Brite ist der zurzeit wohl einflussreichste und bedeutendste Rockmusiker, nicht nur, weil immer wieder seine Fähigkeiten als Produzent und Toningenieur gefragt sind, er gilt als Erneuerer des progressiven Rock. Mit diesem Album hat er es mal wieder bewiesen, dass er zur ersten Liga gehört. Trotz vieler alten Sounds, vieler Reminiszenzen an die Hochzeit des Progressive und Art Rock, ist ihm aber ein durchaus modernes Werk gelungen.
„Hand. Cannot. Erase.“ ist ein Stück künstlerisches Meisterwerk, klug, voller Empathie für die Geschichte, die hier eindeutig die Hauptrolle spielt, manchmal etwas verstörend im positiven Sinne, ein Album, das seine Zuhörer vom ersten Takt an fesselt. Ein wunderbares Album, obwohl (vielleicht auch weil) Wilson auf seine experimentellen Spiele hier weitgehend verzichtet. (Cem Akalin)
JJ Grey & Mofro: „Ol‘ Glory“
So einen Soul hat man schon lange nicht gehört. JJ Grey hat ihn eben in der Stimme, und wer ihn einmal live erleben durfte, weiß, den hat der Mann aus Florida in jeder Faser seines Körpers. Was ist es aber, was einen sofort reinzieht in diese Musik? Es ist diese ganz natürliche Melange aus Soul, Blues, Sothern Rock und Funk, aus Folk, Gospel und grobem R&B, die sich sofort wie die Schwüle der Nacht unter die Haut geht. Im Frühjahr 2014 überzeugte JJ Grey schon das deutsche Publikum, als er im Vorprogramm der Tedeschi Trucks Band auftrat. Übrigens ist Derek Trucks als Gastmusiker auch mit der Slide Gitarre zu hören. Das Album ist definitiv eins, das auf keiner Sommerparty fehlen darf. (Cem Akalin)