Solche Begeisterungsstürme hat man beim Jazzfest Bonn wohl selten gehört. Das Publikum in der Bonner Oper war jedenfalls geradezu freudetrunken, und das kam beim Starpianisten Brad Mehldau offensichtlich an. Drei Zugaben musste er am Montagabend geben, bevor nach zwei Stunden das Saallicht anging. Ein Abend für die Annalen.
Von Dylan Cem Akalin
Ums vorwegzunehmen: Nein, Brad Mehldau hat nicht „Black Hole Sun“ von Soundgarden gespielt. Naheliegend wäre es ja gewesen, in Gedenken des vergangene Woche verstorbenen Chris Cornell dieses Stück, das er durchaus im Repertoire hat, auf die Setlist zu setzen. Stattdessen gab es neues Material zu hören, etwa den Opener, zu dem es nicht einmal einen Titel gab. Obwohl die Ballade, die er mit dem Trio als sechstes Stück des Abends intonierte und er als eigene Komposition ankündigte, im Thema stark an den Beatles-Hit „And I Love Her“ (auch auf seinem Album „Blues And Ballads“) erinnerte. Sei’s drum. Das Stück hatte Lyrik, Gefühl, Romantik und hätte gut zum Soundtrack von „LaLa Land“ gepasst. Mehldau hat es „Maury’s Grey Wig“ genannt, wahrscheinlich eine Hommage an Maury Stein, eine Legende in Hollywood, wo er einen Musikladen und Übungsräume für Musiker hatte. Er selbst spielte Saxofon und stand auch mit Jazzgrößen wie Benny Goodman und Gene Krupa auf der Bühne. Doch was den 1987 verstorbenen Maury ausmachte, war wohl seine ausgesprochen enge Freundschaft zu vielen Musikern, seine Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Das Stück gibt es, soweit ich das überblicken kann, auf keinem Album, so wie andere Songs des Abends auch. Indes gehören viele zum Liverepertoire des Trios, so wie auch „Spiral“, das zweite Stück des Abends.
Brad Mehldau, ein Besessener und Zauberer
Brad Mehldau ist ein Besessener. Musik bestimmt sein Leben. Und zwar in jeder Phase des Tages. Der zurzeit vielleicht angesagteste Jazzpianist, der ständig in der Welt herumreist, wurde einmal gefragt, wie er denn eigentlich entspanne, wie er sich die langen Flug- und Zugreisen verkürze. Seine kurze wie verblüffende Antwort. Er lese Partituren. Und wie er da über dem Klavier hing, die Nase fast an den Partituren, da hatte er sowas rührendes, das an die Versunkenheit von Peanuts Schroeder erinnerte.
Brad Mehldau ist ein Zauberer, ein Meister der Illusion und Täuschung. Besonders deutlich wurde das bei „Strange Gift“, das sich ganz sachte entwickelte. Jeff Ballard bearbeitet seine Drums entspannt mit den bloßen Händen, Mehldau schickt Larry Grenadier als Vorhut los, der ein einfaches Thema anspielt, und der Pianist nähert sich vorsichtig an das Spiel seiner Band, geschmeidig wie eine Wildkatze, die langsam um ihr Angriffsziel kreist. Gerade live auf der Bühne ist es faszinierend zu beobachten, wie er mit der linken Hand eine ganzheitliche Solostimme spielt oder fast ewig dauernde Figuren festhält, um dann mit der rechten den Zuhörer in eine völlig andere Richtung zu schicken.
Mehldau gehört zu den wenigen Pianisten, die zur Kunst der reinen linearen Improvisation beigetragen haben. Außergewöhnliche Fähigkeiten in kontrapunktischer Improvisation haben vielleicht noch Lennie Tristano, Dave McKenna und Kenny Barron. Diese kontrapunktische Technik beinhaltet die Verfolgung der Akkordbegleitung in der linken Hand und die Wiedergabe von unabhängigen, bewegten Linien. Und Brad Mehldaus linke Hand ist so autark, spielt oft so komplexes, melodisches Material, ergänzt von der rechten Hand, dass der Zuhörer den Anschein hat, da sitzt noch ein zweiter Pianist am Flügel. Um diese Technik zu erlernen und mit zwei Händen bis zu vier Zeilen, also Bassline, Melodie und zwei Guide-Tone-Begleitlinien, zu improvisieren, bedarf es schon eines überaus organisierten Ansatzes. Oder mit einem Wort: Wahnsinn!
Brad Mehldau, König des Pianojazz
Bei „Green M&M“ bohrt sich die Figur der linken Hand geradezu intensiv ins Gehör, und dann sitzt er wie beiläufig seitlich auf dem Hocker, die Rechte im Schoß ruhend, die Augen geschlossen und lässt die Linke wie losgelöst vom Körper immer weiter spielen, während Ballard ein fulminantes Solo hinlegt.
Drei Zugaben spielt der zeitgenössische König des Pianojazz: Cole Porters „It’s allright With Me“, das durch Frank Sinatra bekannt wurde, bekommt ein ungewöhnlich rasantes Vorspiel, um dann ein Mehldau’sches Eigenleben zu führen. Ballard begleitet ihn mit der Energie eines Buddy Rich und der Eleganz eines Elvin Jones. Paul Simons „Still crazy after all these years“ gerät zu einem rundweg entspannten Zusammenspiel des Trios und Nick Drakes „River Man“ zu einem sehr zärtlichen Abschied vom Bonner Publikum.