Es ist gut zwei Jahrzehnte her, seit Ian Anderson den Namen Jethro Tull auf einem Album verwendet hat. Tatsächlich ist „The Jethro Tull Christmas Album“ (2003) das letzte Studiowerk der Band, davor erschien 1999 „J-Tull Dot Com“. 2022 bringt Anderson mit „The Zealot Gene“ das 22. Studioalbum von Jethro Tull heraus, macht aber auf dem Cover gleich klar, wer der Bulle im Ring ist. Da starrt uns das von Wind, Wetter und 74 Jahren Rock ‚n‘ Roll gezeichnete Gesicht des britischen Musikers entgegen.
Schließlich spielt Anderson mit den Musikern dieser Band schon seit fast 17 Jahren. Somit stellen sie das längste Band-Line-up in der 55-jährigen Geschichte von Jethro Tull. „Sie verdienten es deswegen auch, ein echtes Jethro Tull Album einzuspielen“, sagt Anderson in Interviews. Mittlerweile denke er, dass er auch das Album „Homo Erraticus“, das er 2014 herausbrachte, unter dem Namen Jethro Tull veröffentlichen sollen. Der Mann, der mit seiner samtenen sonoren Stimme und der Querflöte Rockgeschichte geschrieben hat, hatte in den vergangenen zwei Dekaden überhaupt nicht nötig, unter dem legendären Bandnamen noch Platten herauszugeben oder auf Tour zu gehen. Letztlich war Jethro Tull doch Ian Anderson – auch wenn die Songwriterqualitäten und das virtuose Girarrenspiel seines langjährigen Mitstreiters Martin Barre fehlen – meinen jedenfalls die hartgesottenen Tull-Fans.
Eindeutige Haltung
Und das neue Album ist tatsächlich ein hundertprozentiges Jethro Tull-Werk, das bisweilen sogar an den Klassiker „Aqualung“ erinnert. Vom ersten Song „Mrs. Tibbets“ bis zum Albumabschluss „The Fisherman of Ephesus“ beherrscht die für Tull bekannte Mischung aus Progressive-Rock mit komplexen Akkordwechseln, Jazz- und klassischen Elementen, ein wenig Folk, ein wenig Mittelalter-Anklänge, das alles kunstvoll in den klassischen Hard-Rock verflochten, in den Texten weichen die Mythen und Legenden schwindelerregenden Verweisen aus der Bibel und einer Abrechnung mit Verschwörungserzählungen. Überhaupt ist das Album sehr aktuell und politisch. Im Titelsong geht es um rechte Staatsmänner, um „Populisten mit dunklem Appeal“, es geht um die Anbiederung des Hasses, um fremdenfeindliche Angstmacher, Sklaven der Ideologie, um Intoleranz, das im Laufe der Jahrhunderte immer noch vorherrschende Virus. Wie alle frühen Alben von Jethro Tull verlangt auch „The Zealot Gene“ nach mehr als nur flüchtigem Hören.
Aber die Band lebt nicht nur in ihrer Vergangenheit. „Mrs. Tibbets“ enthält eine Gitarre, die sehr an U2 erinnert, einige raumerschütternde Synthesizerklänge und jede Menge Querflöteneinsätze. Sehr vertraut klingt „Shoshana Sleeping“ mit seinen stotternden Flötensoli oder der Minnesänger in Ian Anderson auf „Sad City Sisters“. Tulls Signatur tritt natürlich immer wieder in Form von Andersons frenetischer Flötenarbeit in den Vordergrund. Bemerkenswert ist übrigens, dass seine Stimme immer noch eindringlich und intensiv ist. Er ist vielleicht nicht mehr in der Lage, seine charakteristische einbeinige Pose wie früher einzunehmen, aber Anderson bleibt der Künstler mit Ecken, Kanten – und einer eindeutigen Haltung. Schon beeindruckend.