Das ist „der Geist des Jetzt“, ein 72-minütiger abstrakter „Strom des Ausdrucks“, den Joe Lovano mit der Pianistin Marilyn Crispell und dem Schlagzeuger Carmen Castaldi am Samstagabend beim zweiten Abend des Jazzfest Bonn 2019 in der Bundeskunsthalle aufführen. Sagenhaft!
Von Dylan Cem Akalin
Was man denn geraucht haben muss, um so vertieft, so meditativ und berauscht spielen zu können?, frage ich Joe Lovano nach dem Konzert. Er lacht. „Rauchen? Nichts. Du musst dich fallen lassen in das, was da gerade auf der Bühne passiert.“ Also ist er nicht berauscht? „Nein, konzentriert, fokussiert auf das Spiel der anderen Musiker. Wenn du nicht voll dabei bist, gehst du unter.“
Was geht in dir vor, wenn du spielst? An was denkst du?
„An gar nichts. Ich gehe voll auf in der Musik, bin mit allem in der Interaktion mit den Musikern. Es ist ein konzentriertes Treiben.“
Und genau das erleben wir. Eine Band, die hochkonzentriert Musik entstehen lässt. Etwas völlig Neues. Tatsächlich kann man die Titel nur an Struktur und Aufbau wiedererkennen. „Wenn ich einen Titel fünf Mal spiele, sind es fünf neue Stücke“, sagt Lovano. Der Leader scheint sich vollends im Spiel zu verlieren, wenn er sein Tenorsaxophon, die Tárogató oder die kleinen Gongs spielt, es ist ein meditatives Konzert mit neun Akten. Die Stücke gehen fast ineinander über, wenn das Trio Musik aus der Musik entstehen lässt. Hauptsächlich Stücke aus dem aktuellen Album „Trio Tapestry“ hören wir, Lovanos Debüt auf dem ECM Label, Themen, die Lovano unter dem Einfluss seiner Freundschaft und Zusammenarbeit mit Gunther Schuller schrieb – das 12-Ton-Konzept, bei dem nicht nur alle Tonarten, sondern auch die Tonarten und Intervalle berücksichtigt wurden. Ein Prinzip, mit dem sich Lovano schon seit langem beschäftigte und aus dem auch das gemeinsame Album „Rush Hour“ (1994) entstand.
Lichtgestalt des Modern Creative
Mit Carmen Castaldi (Drums), mit dem Lovano aufgewachsen ist, und Pianistin Marilyn Crispell hat er zwei Mitstreiter gefunden, die sich wie perfekte Kristalle einfügen. Und mit Crispell erleben wir eine wahre Lichtgestalt des Modern Creative und der Neuen Improvisationsmusik. Die 72-Jährige ist der Wahnsinn. Wo holt sie nur diese kreative Energie her? Und Lovano scheint auch immer wieder verblüfft und begeistert gleichzeitig zu sein. Bei ihren Solos steht er im Halbdunkel, die Augen geschlossen und nickt anerkennend, manchmal schaut er zu ihr rüber mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er ihr beipflichten, als würde sie in diesem Moment genau das ausdrücken, was er selbst fühlt. Und dann ruft er einfach nur „Yeah!“.
Eines der Highlights ist „Fly by Night“, das von den Drums eingeleitet wird. Crispell spielt ein Piano, das wie eine ineinandergreifende Collage wirkt. Da tauchen Melodien wie für einen Soundtrack auf, da entstehen Muster, die zerfallen, aufgegriffen und neu zusammengesetzt werden – und dann erklingen poetische Momente, als kämen sie von Keith Jarrett. Ihre zehnjährige Zusammenarbeit mit Anthony Braxton ist selbstredend nicht an ihr vorbeigegangen. Das gilt vor allem für die freien Räume, die sie sich schafft. Diese Künstlerin vereint die Extreme in sich. Sie steht für die Einheit von Gegensätzen. Ihr Spiel ist davon beseelt, Gegensätze zu einem Ganzen zu vereinen – gewissenmaßen wie im Zeichen des Yin und Yang. Wenn sie Spielt, dann konzentrieren sich die Schönheit der geregelten Bach’schen Klassik mit dem freien Geist John Coltranes, die spröde Intellektualität eines John Cage mit der emotionalen Tradition des Jazz.
Polaritäten vereint
Lovano hat Marilyn Crispell nicht ohne Grund in sein Trio geholt. Sie hilft ihm, zwei gegenüberstehende Polaritäten zur Koordination zu bringen. Hier herrschen gleichzeitig Winter und Frühling – ganz im Sinne Heraklits: „das Widerstreitende zusammentretend und aus dem Sichabsondernden die schönste Harmonie“ zu schaffen.
Das Konzert beginnt mit dem sehr an zeitgenössische Musik erinnernden „Le Petit Opportune“, dem geradezu harmonischen „Tarrassa“, wo Sax und Piano miteinander zu tanzen scheinen, Lovanos Spiel aber wie eine Abfolge offener Fragen klingt. „Seeds of Change“ ist expressiver als auf dem Album, die Band spielt es spröde, aber entschlossen und verbindlich. „Rare Beauty“ startet mit einem lebendigen Drumintro, in das ein Unisono-Spiel von Piano und Saxofon einsteigen. Lovano treibt sich hier immer weiter nach vorne, während die Pianobegleitung so gar nichts mehr von Jazz hat, sondern völlig in der Neuen Improvisationsmusik aufgeht.
„One Time In“, der Opener auf dem neuen Album, beginnt mit dröhnenden tiefen Pianotönen, über die sich Regentropfengleich hohe Weisen legen. Es klingt, als würde das Innere eines Berges ächzen, während die Trommeln wie zu einem Indianertanz auffordern. Die Tárogató klingt wie ein Zwischending zwischen Sopransaxofon und Klarinette. Lovano lässt es flattern wie einen Jungvogel beim Erstflug, der sich aufplustert und sich gegen den Wind stemmt. Der Mann ist ein gewaltiger Improvisator. Seine festen Wurzeln in der Jazztradition hindern ihn nicht daran, mit freier Freude zu spielen.
Verspielte, tanzartige Töne
Lovano bläst bei seinen Solos nicht nur mit avantgardistischem, Coltrane-inspiriertem Tenor-Gusto, sondern setzt auch mehrere Strategien auf mehreren Stimmzungen ein, indem er melodische Motive, rhythmische Start- und Stopp-Phrasen und verspielte, tanzartige Töne erzeugt. Alle Einflüsse von Lovano kommen in seinem rhythmisch orientierten Trio zum Tragen. Angesichts der Auszeichnungen, die der 66-Jährige im Laufe seiner Karriere erhalten hat (unter anderem mehrmals als bester Saxofonist vom Downbeat-Magazin geehrt), und des kreativen Antriebs, der für seine Musik von grundlegender Bedeutung ist, ist der Saxophonist in der Tat ein moderner Jazz-Titan – eine mächtige Kraft, die sich in mehr als zwei Dutzend Alben niederschlägt.
Und er hat in seiner Laufbahn viele neue Perspektiven mit einer Reihe von Musikerkollegen erkundet, von Hank Jones und Elvin Jones über Greg Osby, Kenny Werner bis hin zu Youngsters wie Esperanza Spalding. Er arbeitete mit Paul Motian und Bill Frisell oder in einem neuen Quartett mit seinem langjährigen Freund John Scofield oder mit McCoy Tyner. Außerdem fand Lovano irgendwie die Zeit, ein festes Mitglied des SFJazz Collective zu werden. Lovano hat eine spirituelle Ausstrahlung, sein Spiel ist erfüllt von einem erhabenen Gefühl der Ballade, von einer rauchiger Intuition, einem stürmischen Hard-Bop-Angriff und abstrakten Mäandern der tonalen Möglichkeiten.
„Pierre Boulez“ startet zwar wie ein Bebop, entwickelt sich dann aber zu einem Wirbelwind an Energie, Crispell spielt sich regelrecht die Seele aus dem Leib. Das ruhige „Sparkle Lights“ beendet das Konzert. Atemberaubend!