Albumkritik: Bryan Ferry zeigt in „Retrospective: Selected Recordings 1973-2023“ sein ganz eigenes Gespür für Pop-Art

BRYAN FERRY BEST OF 2023 1CD-FRONT

Von Dylan Akalin

Es klingt wie Roxy Music mit Soul-Ergänzungen. Schon das Eröffnungsstück, Bob Dylans „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, zeigt Bryan Ferrys Gespür für Neuinterpretation. Während Dylans Original von 1962 wie ein eindringlicher, fast prophetischer Warnruf klingt, verwandelt Bryan Ferry den Song in eine beschwingte, beinahe ekstatische Einladung zum Tanz. „Ferrys hämmernde Neuauflage,“ so wird es in den Liner Notes der CD beschrieben, „lässt Dylans apokalyptische Vision wie den Soundtrack zu einer wilden Party erscheinen, die das Armageddon begrüßt.“ Mit dieser mutigen Umdeutung setzt Ferry ein frühes Statement: Er bleibt nicht bloß ein Interpret, sondern formt jedes Werk in etwas grundlegend Eigenes um.

Bryan Ferry hat sich über die Jahrzehnte hinweg als eine der einflussreichsten und wandelbarsten Figuren der Popmusik etabliert, und seine neueste Veröffentlichung, „Retrospective: Selected Recordings 1973-2023“, ist ein beeindruckender Beweis für die Beständigkeit seines künstlerischen Schaffens. Diese 20 Songs umfassende Sammlung zeichnet die Entwicklung von Ferrys Solokarriere jenseits von Roxy Music nach und demonstriert seine einzigartige Fähigkeit, musikalische Genres zu verbinden, Neuinterpretationen zu wagen und dabei doch immer seinen unverkennbaren Stil zu bewahren.

„Smoke Gets in Your Eyes“

Ferrys Ansatz, Klassiker neu zu interpretieren, findet sich auch in anderen Songs dieser Compilation. Sein Cover von Jerome Kerns „Smoke Gets in Your Eyes“ (1974) bleibt weit entfernt von herkömmlichem Kitsch; stattdessen überführt er den Song in die stilisierte und cineastische Welt seiner eigenen musikalischen Vision, in der Pop-Art und Hochkultur, wie in einem Rausch von Farben und Formen, verschmelzen. Wie es treffend in den Liner Notes heißt: „Ferrys Auswahl an Songs verrät mindestens ebenso viel über ihn wie die Stücke, die er selbst geschrieben hat.“

Sein Stil, tief verwurzelt in Pop-Art und den surrealen Inszenierungen eines David Bowie, wird besonders in Songs wie „These Foolish Things“ (2023 Edit) und „Let’s Stick Together“ (1976) deutlich. Hier fängt er die „blitzende Technicolor-Dusche aus Pop und Sci-Fi, hoher Kunst und altem Hollywood“ ein, die sein Schaffen seit den frühen Tagen von Roxy Music prägt. Ferrys ständige Suche nach neuen Ausdrucksformen führte ihn dazu, wie die Liner Notes bemerken, „selbst die Genregrenzen zu durchbrechen und verschiedene musikalische Welten zu erkunden, als wären sie Neuland.“

„Love is a Drug“

Die emotionale Tiefe und Verletzlichkeit, die in Ferrys Performance mitschwingt, erreicht einen Höhepunkt in seiner unverwechselbaren Ballade „Slave To Love“ (7’’ Version). Diese in den 1980er Jahren weltumspannende Hymne auf die Liebe ist mehr als nur ein Liebeslied – sie ist eine künstlerische Meditation über das Verhältnis von Leidenschaft und Abhängigkeit, wie das zentrale Motiv „love is a drug“ verdeutlicht. Der Song „entfesselt ein zeitloses Thema“, heißt es auf der CD, „in dem Musik, impressionistische Texte und tief empfundene Darbietung im Gleichklang miteinander stehen.“

Ein weiteres Highlight der Compilation ist Ferrys Zusammenarbeit mit Todd Terje in „Johnny and Mary“ (2023 Edit). Ursprünglich von Robert Palmer geschrieben und viel schneller performt, wurde dieser Song durch Ferrys melancholische und hypnotische Interpretation zu einem elektronisch-pulsierenden Meisterwerk. Seine künstlerische Zusammenarbeit mit dem norwegischen Produzenten schafft eine moderne Klanglandschaft, die dennoch die emotionale Intensität des Originals beibehält. „In seiner Art,“ so die Liner Notes, „ist es eine ebenso radikale Neuerfindung wie ‚A Hard Rain‘ es vier Jahrzehnte zuvor war.“

„Your Painted Smile“

In Ferrys umfassendem Œuvre lassen sich immer wieder Parallelen zur bildenden Kunst ziehen, was nicht zuletzt seiner Ausbildung als Kunststudent zu verdanken ist. Diese visuelle Sensibilität durchzieht seine Musik und seine Präsentation. So wirkt jedes Album und jede Neuinterpretation wie ein feinsinniges Gemälde, in dem Nuancen und Schichten sich erst nach und nach erschließen. „Your Painted Smile“ von Mamouna (1994) etwa wird in den Notes als „mikrokosmische Reflexion des gesamten Albums“ beschrieben – ein „langsames, fokussiertes Studium eines verzauberten Moments.“

Retrospective: Selected Recordings 1973-2023 stellt somit nicht nur eine Werkschau dar, sondern eine Reise durch die ästhetischen Transformationen und stilistischen Grenzgänge eines der faszinierendsten Künstler unserer Zeit. Ferrys anhaltende Lust am Experimentieren und Neuerschaffen, gepaart mit einer unvergleichlichen Sensibilität für Atmosphäre und Emotion, machen diese Compilation zu einem unverzichtbaren Dokument seines Schaffens – für alte Fans wie für neue Entdecker.