Von Cem Akalin
„Alice’s Restaurant“, der Kult-Song der Folk-Generation, besteht im Grunde nur aus einem Refrain und einer fast 20 Minuten lang erzählten Geschichte. Aber diese Geschichte beschreibt das Lebensgefühl einer Generation im Aufbruch – und eine Gesellschaft, die dabei ist, in ihren Grundfesten erschüttert zu werden.
Es ist das Jahr 1967. Der Student Benno Ohnesorg wird in Berlin von einem Polizisten erschossen. Zehntausende demonstrieren in San Francisco gegen den Vietnamkrieg. Und Arlo Guthrie, 20 Jahre jung, Schlapphut über den langen Haaren, singt „Alice’s Restaurant“. Underground- Hit 1967. Zwei Jahre später, 1969, tritt er beim legendären Woodstock-Festival auf. Heute ist die Folk-Legende 59, die Haare sind immer noch lang, aber schlohweiß. Der New Yorker sitzt auf einer blauen Holzbank in einem Beueler Garten, neben ihm seine Schwester Nora, die mit ihrem deutschen Ehemann, dem Journalisten Michael Kleff, die Sommermonate auf der „schääl Sick“ verbringt. Den anderen Teil des Jahres kümmert sie sich in New York um das Archiv ihres Vaters, dem legendären politischen Folk- Musiker Woody Guthrie. Arlo, auf Tour durch Deutschland, besucht sie in Beuel.
Ist er’s leid, über „Alice’s Restaurant“ zu sprechen? „Ganz und gar nicht – auch wenn ich’s im Schlaf könnte“, sagt er. „Immerhin handelt es sich ja um eine wahre Geschichte.“ Und die begann 1965. Arlo lebte gerade bei seinen Freunden Alice und Ray Brock in Stockbridge, Massachusetts. Das Paar hatte eine alte Kirche gekauft. In dem Song, der heute an Thanksgiving zum Standard-Repertoire amerikanischer Radiosender gehört, beschreibt Arlo, wie er und sein Freund Rick in einem VW-Bus den Müll entsorgen, dafür verhaftet werden, von einem blinden Richter zu einer Geldstrafe verurteilt werden und alles wieder wegräumen. Außerdem verarbeitet er seine Musterung in dem Song.
„Der Refrain entstand beim Herumalbern, nachdem wir am nächsten Morgen wieder draußen waren“, erzählt Arlo Guthrie. „Aber geschrieben habe ich ihn erst ein Jahr später.“
Und dann kam 1969 der gleichnamige Film des Regisseurs Arthur Penn („Bonnie und Clyde“, „Little Big Man“) mit Arlo Guthrie in der Hauptrolle heraus. Kultfilm. Guthrie verzieht das Gesicht. Er gefällt ihm nicht. „Er ist deprimierend. Und das meiste hat er noch dazu erfunden.“ Obwohl es Penn besser wusste. Denn Penn lebte selbst in Stockbridge. Er kannte Obie und auch den blinden Richter. Er wusste, dass alles in dem Song wahr war. Und so ließ er in dem Film auch den Officer und den Richter sich selbst spielen.
Was Guthrie ärgert, ist die Aussage des Films: „Arthur Penns Vision ist, dass diese jungen Leute, die da zusammenleben, an ihren Hoffnungen und Träumen scheitern werden – auch, weil Ray und Alice versagen. Aber das stimmt nicht. Da ist diese wundervolle Szene am Ende des Films. Während der Party steht ein Typ auf und sagt: Lasst uns diese Kirche wieder aufbauen und sie mit Leben füllen. Aber man liest in den Gesichtern der Leute, dass das ein Traum bleiben würde. Und genau mit dieser Prognose lag Arthur Penn falsch: Denn wir haben die Kirche gekauft. Vor 20 Jahren. Und wir haben sie wieder aufgebaut. Es war Arthur Penns Vision, die gescheitert ist. Nicht unsere.“
Arlo hat die Kirche 1991 gekauft, sie ausgebaut und zwei Stiftungen eingerichtet: Eine nennt sich „Interfaith Church“, ein überkonfessioneller Treffpunkt, von dem aus soziale Projekte gesteuert werden: etwa Unterstützungen für Familien, die Angehörige mit HIV/Aids pflegen, oder Betreuungen für missbrauchte Kinder. „Als wir diese Kirche aufbauten, nahmen wir zwei Dinge aus jeder Kultur mit rein: die religiösen Traditionen und die Bildungswerte. Meine Vorstellung eines globalen Zusammenlebens ist, dass man seine eigenen Werte pflegt, aber auch die der Anderen akzeptiert, sie versteht, damit ich mit ihnen kommunizieren kann. Das muss man lernen. Und das soll die Kirche leisten.“
Arlo hat das Center nach seinem Vater Woody benannt und eines seiner Lieder („Tom Joad“) zum Leitprinzip erklärt: „Wo immer Kinder hungrig sind und weinen, wo immer sie nicht frei sind, wo immer Völker für ihre Rechte kämpfen, da werde ich sein.“ Arlo Guthrie sang Anti-Johnson- Lieder, Anti-Nixon-Songs („Presidential Rag“). Ist es nicht Zeit für einen Anti-Bush-Song? „Nein. Denn ich habe mit der Zeit gelernt, über politische Dinge zu sprechen und zu singen, ohne jemanden persönlich anzugreifen.“