Als ich die frisch erhaltene CD „Negative Capability“ von Marianne Faithfull im Auto in den Player reinschob, packte mich die Musik vom ersten Moment an. Und als ich am Ziel angekommen war, da wollte ich nicht aussteigen. Ich musste das Album zu Ende anhören. Und als der letzte Takt verklungen war, blieb ich im Auto sitzen. Dieses Album frisst sich rein in dein Herz, in deine Gehörgänge, in deine Seele und lässt dich nicht mehr los.
Von Dylan Cem Akalin
Eigentlich würde es reichen, statt einer Musikkritik die Texte aus dem Album zu veröffentlichen. Die allein sind nämlich von so verzaubernder wie groben Offenheit und Selbstreflexion, wie man sie nur selten zu hören bekommt. Man denkt unweigerlich an die Abschiedswerke von David Bowie und Leonard Cohen. Mit ihrer wunderschön verwitterten, rauen, brüchigen, unvollkommenen Stimme beginnt Marianne Faithfull mit dem ganzen Gewicht ihrer sieben Jahrzehnte währenden Lebenserfahrung mit einer schrecklich ergreifenden Reflexion über die Einsamkeit, die sie schlicht als „Missverständnis“ bezeichnet.
Und dann diese Überarbeitung ihres ersten Erfolgs, dem 1964 von Mick Jagger und Keith Richards für sie geschriebenen Song „As Tears Go“, eine entblößte Klage über den Tod des Lebens. Dass sie diesen Song auf ihrem neuen Album neu interpretiert, ist wie das Ziehen eines letzten Pinselstriches auf einer Leinwand, um das Bild zu beenden und einen Schritt zurückzutreten um das Gesamtwerk in Gänge zu betrachten.
Sinnbild der wilden 60er
Dass Marianne Faithfull mit ihren 71 Jahren noch unter uns weilt, hätte sie wohl selbst nicht für möglich gehalten. Ich kann mich noch dunkel an ein Interview erinnern, das sie vor vielleicht zehn oder 15 Jahren mal gegeben hatte, in dem sie nüchtern erklärte, die 70 würde sie wohl niemals erleben. Die Frau, die das Sinnbild der wilden 60er war, die Schöne, die mit reiner Stimme „As Tears Go By“ sang und die Rock- und Popszene Londons bezauberte, die faszinierende Frau mit der adligen österreichisch-ungarischen Familiengeschichte, ist heute sowas wie die letzte Diva der Popgeneration.
„You Can’t Always Get What You Want“
Wir verdanken ihr die bekanntesten Songs der Rolling Stones. „Sympathy for the Devil“, das 1968 auf dem „Beggars Banquet“-Album von 1968 zu hören war, wurde wohl inspiriert von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“, ein Buch, das Faithfull Jagger empfahl. Und „You Can’t Always Get What You Want“ („Let It Bleed“, 1969) ist ein Song über Faithfull, „Wild Horses“ und „I Got the Blues“ auf dem („Sticky Fingers“, 1971) wurden ebenfalls von Faithfull beeinflusst, und sie schrieb an „Sister Morphine“ mit.
Vier Jahre war sie mit Jagger zusammen, versank dann in der Drogensucht. Fast 15 Jahre hing sie an der Nadel, bis sie 1979 mit „Broken English“ wieder auftauchte – mit einem bahnbrechenden Knall.
„Negative Capability“ ist ihr 21. Album
Seitdem ist Faithfull zu sowas wie einer dunklen Königin der Melancholie herangereift, deren ausdrucksvolle Stimme von der Zeit und ihrem stürmischen Leben aufgeraut und mit einer Tiefe versehen wurde. „Negative Capability“, das 21. Album des 71-jährigen Sängers, ist eine bewegende, leise, würdevolle Sammlung von Songs, die sich mit dem Alter, Schmerz, Verlust und Einsamkeit beschäftigen – also nicht gerade die üblichen Themen des Rock’n’Roll.
Faithfull ist die Chef-Lyrikerin auf dem Album und arbeitet hier mit Musikern wie Mark Lanegan, Ed Harcourt und Nick Cave zusammen, die Co-Autorin sind. Cave singt auf „The Queen Faerie Gypsy“ mit, eine Meditation über die Mittsommernacht von Shakespeare. Wunderschön. Zerbrechlich. Mit dem fast trunkenen Chrorus: „And I follow, follow, follow/My Gypsy Faerie Queen,/We exist, exist, exist, in the twilight in-between …“
Songs von trauriger Magie
Faithfull (und ihre Produzenten, Rob Ellis und Ellis Warren) haben melodiöse, herbstliche, zaghaft hoffnungsvolle Songs von trauriger Magie erschaffen, getragen von sparsamen, aber effektvollen Arrangements, angetrieben von akustischer Gitarre, meditativem Piano und düsteren Streichern. „My Own Particular Way“ erinnert von der Stimmung am Anfang etwas an „Nights in White Satin“ von den Moody Blues.
Faithfull singt Bob Dylans „It’s All Over Now, Baby Blue“ mit zurückhaltender Hingabe, den hypnotischen „Witches Song“ aus „Broken English“. „Born to Live“ hat sie für ihre verstorbene Freundin und langjährige Frau von Keith Richards, Anita Pallenberg, geschrieben. „Wir sind geboren, um zu leben und zu sterben“, heißt es da und: „Ich hasse es, gute Freunde zu verlieren.“
„Don’t Go“ richtet sich an Martin Stone, ihren langjährigen Gitarristen, der einst sogar mal im Gespräch war, für Brian Jones bei den Rolling Stones einzusteigen. Man kann nur erahnen, was er ihr bedeutet hat, da sind so manche rätselhafte Andeutungen drin. Und zum Schluss heißt es: „But please don’t go baby, don’t go too soon/To be an atom, like Lucretius said,/Somewhere on the moon“.
In „They Come at Night“ geht es um die Terrorattacken in Paris, wo Faithfull schon seit Ewigkeiten lebt, in „No Moon in Paris“ besingt sie die Einsamkeit, die sie statt Liebe in der Stadt des Lichts findet. Aber es ist nicht alles Dunkelheit. Faithfulls unbezwingbarer Geist sucht mehr – mehr Leben, mehr Hoffnung, mehr Liebe. Aber wie heit es in “ My Own Particular Way“? Ihre ironische Selbsteinschätzung lautet: „Ich weiß, ich bin nicht jung und ich bin beschädigt / Aber ich bin immer noch hübsch, nett und lustig.“ Und, es klingt wie ein hoffnungsvoller Aufruf: „Ich bin bereit zu lieben.“