Was das Pinkpop-Festival im niederländischen Landgraaf, nicht mal eine Stunde von Köln und Bonn entfernt, so bezaubernd macht? Erstmal haben’s die Holländer einfach drauf, für eine angenehme, entspannte Atmosphäre zu sorgen. Und das Programm von Europas ältestem Open-Air-Festival ist von Diversität geprägt: Rock, Alternative, Punk, Pop, Elektro – alles ist erlaubt. Und es gibt viel zu entdecken. Eindrücke von Tag eins:
Von Dylan Cem Akalin
Schon diese überdimensionalen bunten, altmodisch anmutenden Lampenschirme, die vom Zirkuszeltdach herunterhängen! Süßlicher Duft liegt in der Luft, The Ten Bells rocken die Brightlands Stage zur Eröffnung. Auch wenn die Band sich nach einer berühmten viktorianischen Kneipe in London benannt hat, es sind Holländer. Mit ihrem leicht punkig angehauchten Garage-Blues-Rock, der durchaus auch den Arctic Monkeys gefallen dürfte, sorgen die sympathischen Rocker am frühen Samstagnachmittag schon für tanzbare Grooves, die manchmal durchaus in Richtung Punk-Funk-Rock gehen. Eine tolle Live-Band.
Ach ja, um‘s vorwegzunehmen: Nein, Justin Bieber haben wir nicht gesehen, den haben wir uns geschenkt. Wir haben noch das ekstatische Rufen der Menge gehört, als der Popstar gegen 21 Uhr die Bühne betrat. Aber die Beine führten uns lieber zu unserem Auto.
Dafür hat White Lies für eine Überraschung als gute Liveband gesorgt. „Take It Out On Me“ klingt wie ein 80er-Jahre-New Wave. Ein wenig romantisch im Ausdruck, Erinnerungen an Depeche Mode (besonders „There Goes Our Love Again“), The Alarm, Morrisey und Cure sind sicherlich durchaus gewollt. Die englische Alternative-Rock-Band wird zu Recht dem Post-Punk-Revival zugeordnet — fette Bässe, Synthiesounds, hymnische Gesänge inklusive.
Declan McKenna gilt zurzeit in der Musikbranche als einer der hoffnungsvollsten Indie-Newcomer, der mit seinen 18 Jahren sicherlich noch am Anfang der Karriere steht. Viele sehen in ihm aber schon einen, der das Zeug zum internationalen Superstar hat. Eine Fangemeinde hat der Engländer offensichtlich schon, sie reicht aber noch für die kleine „Stage 4“, was aber nichts heißen muss. Hier haben in der Vergangenheit schon ganz andere Bands gespielt, die eine größere Bühne verdient hätten. McKenna kommt im weißen Overall, mit Glitzerschminke im Gesicht, zu Anfang zappelt er noch viel zu hektisch und ziemlich affektiert auf der Bühne.
Die Songs wirken indes sehr reif arrangiert, und es sind wohl besonders seine ernsten Texte, die den Evening Standard dazu hinreißen, aus ihm die „Stimme der Generation Z“ zu machen. „In Songs wie „The Kids Don’t Wanna Come Home“ thematisiert er das, was in Jugendlichen vorgeht: „ I don’t know what I want/ If I’m completely honest/ I guess I could start a war/ I guess I could sleep on it”. Interessant: Im Publikum steht nicht nur die Justin-Bieber-Gemeinde, sondern auch viele erwachsene Musikfans. „Ich schreibe eben Songs, die ein negatives Thema haben, aber ich versuche das in einer hoffnungsvollen Weise zu tun. Einfach um zu zeigen, dass diese Welt nicht nur voller Schrecken ist“!, erklärt McKenna mal in einem Interview. Und das tut er mit poppigen, tanzbaren und festlichen Melodien.
Was soll man zu den Kaiser Chiefs noch sagen? Was für eine Liveband! Und Ricky Wilson ist ein glänzender Unterhalter, ein Frontmann, den sich jede Band wünscht. Gesanglich auf dem Punkt und ein Rockmusiker, der alles gibt. Er rast von Bühnenseite zu Bühnenseite, als würde er Kilometergeld bekommen, heizt die Menge an, springt zur Gaudi der Menge auf den Kamerawagen vor der Bühne und lässt sich kutschieren. „Never Miss a Beat“, die Single aus dem dritten Album „Off with Their Heads“ (2008), ist ja mit seinem treibenden Beat auch ein Song, der sich als Opener eignet. Und das Publikum geht vom ersten Takt an mit. „Everything is Average Nowadays“ spricht vielen sicherlich aus der Seele. Durchschnitt ist die Band aus Leeds sicherlich nicht. „Na Na Na“ bietet sich natürlich für den Chorgesang des Publikums an, und zum Schluss gibt es noch den eingängigen Song „Oh God.“
Kensington hat in Holland Superstarstatus. Die Ziggo-Halle (17.000 Zuschauer) in Amsterdam füllt die Band aus Utrecht locker an fünf Tagen hintereinander. Entsprechend voll war der Platz vor der Hauptbühne. 70.000 Fans feierten die Indie-Rockband vom ersten Stück „Regret“ an. Flammen schießen bei ihrem Auftritt aus Rohren vor der Bühne, hinter ihnen laufen über eine Leinwand Bewegtbilder. Und Sänger Eloi Youssef hat eine Stimme, die im Stadion noch in der letzten Reihe Gänsehaut machen kann. Der Mann mit dem ernsten Gesicht hat einen cremigen Tenor mit einer leichten Rauheit, er erinnert manchmal an Caleb Followil, den Sänger von Kings of Leon. Eloi, der als Tatoo auf dem Unterarm eine Textzeile aus Joni Mitchells „Dawntreater“ („He stakes all his silver/On a promise to be free“) trägt, hat ein Soundgarden-T-Shirt an – in Erinnerung an Chris Cornell. Der Tod des Sängers habe ihn tief getroffen“, sagt er uns im Interview, das wir vor dem Konzert geführt haben. (Demnächst hier)
Kensington spielen ein fantastisches Set: “Do I Ever”, “Riddles”, “All for Nothing”, “Regret”, “Bridges”, “Rivals”, “Sorry”, “Streets”, “Home Again”, “St. Helena”.
Richard Ashcroft ist glänzend aufgelegt. Im Zelt stimmt der Klang, sein Leadgitarrist, der stets im Dunkel auf der Bühnenseite bleibt, spielt ein fantastisches Solo nach dem anderen, hat Sounds zum Niederknien. Und Ashcroft beglückt die Fans mit jeder Menge Songs von The Verve: „Sonnet“ gibt’s zur Eröffnung, „Space and Time“, „The Drugs Don’t Work“ (was die Leute neben mir nicht daran hindert, ihren Joint genüsslich zu rauchen), und The Verves größten Erfolg „Bitter Sweet Symphony“ gibt es als Schlusslied. Besser geht’s nicht.