
Was einst undenkbar war, wurde jetzt Realität: In der ehrwürdigen Royal Albert Hall trifft Flower-Power auf Mahler, Hippie-Mythos auf orchestrale Wucht. Bob Weir, Gründungsmitglied der Grateful Dead, entfesselt mit den Wolf Bros und dem Royal Philharmonic Concert Orchestra ein Konzert zwischen Kult, Klangrausch und musikalischer Transzendenz. Eine Rezension über LSD-getränkte Legenden, barfüßige Pilger – und ein sinfonisches Ritual jenseits aller Genregrenzen.
Von Dylan C. Akalin
1971 hatten die Verantwortlichen der Royal Albert Hall noch einen Auftritt von Frank Zappa und seinen Mothers of Invention in diesen ehrwürdigen Hallen in London noch abgelehnt. Krasser kann man das Zusammenprallen von Moderne auf Konvention kaum beschreiben. 54 Jahre später ist solch ein Auftrittsverbot kaum noch nachzuvollziehen. Während Zappa sich damals mit den Anzugträgern in South Kensington rumschlagen musste, traten die Greatfull Dead an vier Abenden im Fillmore East in New York auf. Sie wären damals wahrscheinlich kaum auf den Gedanken gekommen, ihre Songs mit einem Philharmonischen Orchester aufzuführen.

Genau das ist am Samstagabend geschehen: Bob Weir, einer der letzten noch lebenden Gründungsmitglieder der Deads hat mit den Wolf Bros, mit Don Was am Bass, Dead & Company Kumpel Jeff Chimenti am Piano und Jay Lane an den Drums und insbesondere dem Royal Philharmonic Concert Orchestra in der Royal Albert Hall in London ein umjubeltes Konzert gegeben.
Antagonismus und Spannungsfeld
Und ich weiß zunächst nicht, was irritierender ist: Dieser Antagonismus, vielleicht sogar dieses Paradoxon von Flower-Power und viktorianischer Pracht, dieser Widerspruch von improvisiertem Hippie-Jam und orchestraler Disziplin? Songs mit zum Teil LSD-durchtränkten Bildern treffen auf Mahler’sche Arrangements. Irre irgendwie, oder?

Oder die Fans – vom braven Senior bis zum ausgeflippten, barfuß laufenden Hippiepärchen ist alles vertreten –, die die Royal Albert Hall vom ersten Moment an zu einer Art Pilgerstätte machen. Das Konzert wird zu einem bunten, ausgelassenen Fest der Freude, bisweilen sogar der Anbetung, fehlt nur eine Gläubigentaufe… Nicht wenige heben huldigend beide Arme in die Lüfte, viele tanzen ausgelassen. Bobby Weir verzieht indes keine Miene, wirkt höchst konzentriert, ich meine sogar, dass er einmal zu früh einsetzt. Na, ja, passiert. Die Band hat gerade mal zweimal mit dem 68 Mann und Frau starken Orchester geprobt!
Aber genau dieses Spannungsfeld macht dieses einzigartige Ereignis zu einem Ereignis. Was für ein Erlebnis, Bob Weirs neues Live-Projekt mit den Wolf Bros und dem Royal Philharmonic Concert Orchestra sich entfalten zu sehen und zu hören. Um es vorweg zu nehmen: Derzweite Set dieser ambitionierten Symbiose aus klassischer Klanggewalt und psychedelischem Americana hat mir viel besser gefallen. Vielleicht waren alle Beteiligten eingespielt, die Cellisten drehten manchmal gar übermütig ihre Instrumente. Aber im zweiten Teil waren die orchestralen Einsätze und Arrangements auch sparsamer, weniger dominant als im ersten Set.
13-minütige Ouvertüre
Die 13-minütige Ouvertüre, schlicht „A Grateful Overture“ betitelt, beginnt mit schrillen Bläsern und einem sehr getragenen Streichereinsatz. Verantwortlich für dieses orchestrale Medley aus Motiven der Grateful Dead ist Giancarlo Aquilanti, Professor an der Stanford University, der in sein Arrangement immer wieder raffinierte Wendungen eingebaut hat, mal dominieren die Flöten zu einem Frühlingserwachen, dann wieder arbeiten Streicher und Bläser mit filmischer Geste. Fragmente von Songs wie „The Other One“ werden zu einem mosaikartigen Epos verwoben – eine Art spirituelles Inhaltsverzeichnis des Abends. Sehr eindrucksvoll in dieser raffiniert ausgeleuchteten Halle. Die mächtige Orgel, jener in der Kathedrale in Liverpool nachempfunden, ist beleuchtet, als würde die Abendsonne durch bunte Kirchenfenster scheinen.

Aquilanti, der bereits 2022 beim Debüt dieses Konzepts in den USA mitwirkte, versteht es, das chaotisch-schillernde Œuvre der Dead in orchestrale Form zu überführen, manchmal für meinen Geschmack, auch später, zu elegisch. Am Ende klingt sanft die Triangel, und das Orchester schließt mit einem mächtigen Wumms die Overtüre.
„What a long, strange trip it’s been“
Als Weir schließlich auf die Bühne tritt, ist die Menge kaum noch zu halten, die Leute im Innenraum strömen nach vorne, viele stehen auch in den Rängen auf. Weir ist in einem fast akademisch anmutenden schwarzen langen Hemd begleitet. Die Wolf Bros, mit Don Was am Bass, der sich unter der breiten Krempe seines Cowboyhuts fast ein wenig versteckt, Jay Lane an den Drums und Jeff Chimenti mit leuchtend weißen langen Haaren am Piano, bilden das Rückgrat.
Doch heute Abend ist alles größer gedacht. Weirs Stimme wirkt zu Beginn noch vorsichtig, beinahe scheu, seine Gitarre hat etwas zappaeskes, wie aus der „Orchestral Favorites“-Phase. doch mit „Truckin’“ kristallisiert sich das Format: das Orchester ist nicht nur Beiwerk, sondern trägt, veredelt, überführt die Songs in neue Sphären. Sogar einige Breaks macht das Orchester mit. „Truckin’“ ist quasi das Tourtagebuch der Band. Mit seiner berühmten Zeile “What a long, strange trip it’s been“ ist der Song längst zum Mantra geworden – über das Musikerleben hinaus ein Symbol für jede Art von Lebensreise voller Brüche, Exzesse und unerwarteter Wendungen. In orchestraler Begleitung gewinnt der leicht schunkelnde Blues-Rock-Song eine zusätzliche epische Tiefe.
Von psychedelischer Folklore zum sinfonischen Rausch
„Black Peter“ gleitet schwerblütig durch den Saal, die orchestrale Auskleidung verleiht dem düsteren Blues eine fast mahlereske Gravitas. Die Songauswahl an diesem Abend in der Royal Albert Hall ist bemerkenswert. Viele der Stücke gehören zum innersten Kern des Grateful-Dead-Kanons und thematisieren – mal poetisch, mal surreal, mal ganz existenziell – das Leben zwischen Straße, Spiritualität und Sterblichkeit. Im ersten Set geht es um Aufbruch, Verlust und das Suchen nach Sinn.

„Black Peter“ ist ein düsteres, introspektives Stück – geschrieben aus der Sicht eines Sterbenden. Die orchestrale Auskleidung verleiht diesem ohnehin schwermütigen Song eine fast filmisch-tragische Dimension. Es geht hier nicht nur um körperlichen Tod, sondern auch um die soziale Isolation des Abschieds. Dazu passen die Arrangements der gedämpften Bläser.
Grateful-Dead-Diptychon
Doch es sind „China Cat Sunflower“ und „I Know You Rider“, das klassische Grateful-Dead-Diptychon, das jetzt wirklich leuchtet. Hier gelingt, was das Dead’sche Ideal seit jeher ausmacht: Transformation durch Improvisation. Zwar sind vollständige Freeform-Übergänge mit einem Sinfonieorchester kaum möglich – doch Weir und Chimenti nutzen geschickt die offenen Stellen in den Arrangements, um spontane Phrasen einzuflechten. Bisweilen klingt es von Hommage an den Geist der Band, der selbst in symphonischer Enge noch nach Freiheit strebt. Das Publikum ist entzückt, wir erleben hier sowas wie eine rockige Gläubigenfeier.
Das Diptychon „bildet inhaltlich wie musikalisch einen Wendepunkt. „China Cat“ ist ein surrealistisches Kaleidoskop aus LSD-getränkten Bildern – ein psychedelisches Sprachspiel voller Katzen, Sonnenblumen und technischer Metaphern, vielleicht sowas wie eine Hippie-Hymne voller Flowerpower. Die nahtlose Überleitung in das traditionelle Folk-Stück „I Know You Rider“ ist nicht nur ein Konzertklassiker, sondern auch eine symbolische Heimkehr ins kollektive Gedächtnis: Der Song handelt vom Unterwegssein, von Verlassenwerden und dem bittersüßen Gefühl von Freiheit.
Mit „Brokedown Palace“ endet das erste Set in melancholischer Schönheit., bei dem die Flöten eine wunderschöne Zärtlichkeit ausdrücken. Es ist ein Abschiedslied – ruhig, resigniert, aber auch tröstlich. “Fare you well, fare you well, I love you more than words can tell.” In orchestraler Fassung entfaltet das Lied eine fast sakrale Wirkung – ein wiegender Hymnus auf die Endlichkeit.
Das Konzept der orchestralen Dead-Konzerte
Diese orchestrale Erweiterung ist kein Selbstzweck. Weir verfolgt das Projekt seit 2022, als er mit Aquilanti und dem National Symphony Orchestra im Kennedy Center in Washington, D.C. erstmals Dead-Songs im klassischen Gewand präsentierte. Es war kein einmaliger Versuch, sondern der Beginn einer Reihe von Konzerten, bei denen Weir systematisch die Musik seiner Band einem neuen Kontext zuführte. Dass ausgerechnet der Rhythmusgitarrist der Dead – nie für virtuose Soli, wohl aber für musikalische Neugier bekannt – zum Architekten dieser sinfonischen Reinkarnation wird, wirkt im Rückblick folgerichtig. Weir selbst sagt, er wolle sich in seiner verbleibenden Zeit den Dingen widmen, „zu denen er bisher nicht gekommen sei“.
Ein zweites Set von hymnischer Kraft
Im zweiten Set erreicht das Konzert sein Herzstück. „Sugar Magnolia“ mit wunderschönen Flageolette-Tönen aus Bobby Gitarre in den Streicherarrangements bringt Licht und Lebensfreude zurück. Der Song ist eine Ode an eine idealisierte Liebespartnerin – wild, frei, naturverbunden.
„Terrapin Station“, vielleicht das zentrale Werk des Abends, ist eine mehrteilige 15-minütige Suite voller archetypischer Bilder: Schildkröten, Propheten, Masken, Wege, die sich trennen oder kreuzen. Robert Hunter, der Texter, hat hier ein modernes Mythenstück geschaffen – die Musik, besonders in orchestraler Version, unterstreicht den epischen Anspruch. Die „Terrapin Flyer“-Passage lässt Raum für rhythmische Dialoge, die fast ein wenig an Steely Dan erinnern, Jay Lane liefert sich hier ein wildes Wechselspiel mit dem Orchester.
Berührender Moment: „Days Between“
Und dann verlässt die Band die Bühne. Zurück bleiben Bobby Weir und das Orchester, das Licht wird weiter gedämmt. „Days Between“ singt Weir allein mit dem Orchester. Es ist vielleicht der berührendste Moment des Abends. Es ist das letzte große lyrische Werk von Jerry Garcia und Robert Hunter, geschrieben in einer Zeit, als der Tod bereits spürbar nahe war. Der Song handelt von verflossener Jugend, von Sehnsucht nach Idealismus, vom schmerzlichen Wissen um das Verlorene. Die zentrale Zeile: “When all we ever wanted was to learn and love and grow.” Weirs immer noch jugendliche Stimme, die immer wieder leicht in den Höhen kontrolliert bricht, verleiht dem Text eine Art altersweiser , nnigkeit – ein inneres Requiem.
Wahnsinn. Weir allein auf der Bühne, umgeben vom Orchester, die Stimme klar, kraftvoll, verletzlich, getragen von einem sechzig Jahre währendem Rock ‚n‘ Roll-Leben.
Finale in Euphorie
Mit „Jack Straw“, „Hell in a Bucket“ und dem ekstatisch gefeierten „Sunshine Daydream“ nähert sich das Konzert seinem ekstatischen Finale. Das Publikum – größtenteils jenseits der Fünfzig, aber mit jugendlicher Energie – tanzt, ruft, lebt.
„Jack Straw“ kehrt zurück zur amerikanischen Erzähltradition. Die Story handelt von zwei Vagabunden – eine Mischung aus Hobo-Lied, Western-Drama und moralischer Parabel. Freundschaft, Verrat, Schuld – alles in weniger als sechs Minuten. Das Orchester verleiht dem Song cineastische Weite.
„Hell in a Bucket“: sarkastisch, bissig, tanzbar. Der Refrain “I may be going to hell in a bucket, but at least I’m enjoying the ride” ist eine Art resignativ-feierliches Lebensmotto – nihilistisch, aber mit Stil.
„Sunshine Daydream“ ist sowas wie der ekstatische, fast rauschhafte Ausbruch aus dem strukturierten Rahmen, ein Moment der reinen, Lebensfreude – und in gewisser Weise das Gegenstück zu den ernsteren, introspektiven Liedern des Abends wie „Black Peter“ oder „Days Between“.

Die Metaphern sind offen, blumig, bewusst diffus: “Going where the wind don’t blow so strange / Maybe going where the sun keeps shining / Through the pouring rain.” Der Text selbst ist weniger eine Erzählung als ein psychedelisches Tagtraumfragment, das zwischen Himmel, Sonne, Blumen und klanglicher Euphorie taumelt. Es ist Hippie-Surrealismus in Reinform – ohne Ironie, ohne Zynismus.
Mit diesem Stück wird das Orchester euphorisch verabschiedet und wir hören noch zwei Stücke nur mit dem Bob Weir Quartett, das mit „She Says“, ein spätes Ratdog-Stück, und dem unvermeidlichen „One More Saturday Night“ das Konzert nach drei Stunden (inklusive Pause) beschließen. Und ja, es ist Samstagabend – aber es ist auch mehr als nur ein Konzert gewesen. Es war ein Ritual, eine Zeremonie, ein sinfonisches Deadhead-Treffen im Tempel britischer Hochkultur.

Setlist Bob Weir plays Greatful Dead with The Royal Philharmonic Concert Orchestra in London 2025
Set 1:
A Grateful Overture (Arrangement Giancarlo Aquilanti)
Truckin‘ (Grateful Dead)
Black Peter (Grateful Dead)
China Cat Sunflower (Grateful Dead)
I Know You Rider (Traditional)
Brokedown Palace (Grateful Dead)
Set 2:
Sugar Magnolia (Grateful Dead)
Terrapin Station (Grateful Dead)
Days Between (Grateful Dead) (Bob allein mit Orchestra)
Jack Straw (Grateful Dead)
Hell in a Bucket (Grateful Dead)
Sunshine Daydream (Grateful Dead)
She Says (Ratdog Cover)
One More Saturday Night (Bob Weir song)